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Sich die staatliche Gestalt zu geben, deren es bedarf, um seine
natürliche Anlage zu entwickeln, seine Bestimmung zu erfüllen,
für seine Sicherheit zu sorgen und seine Ehre zu wahren, und
daher sein Recht, dafür nötigenfalls zu den Waffen zu greifen,
ein sehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht, als
irgend ein urkundliches Dynastenrecht.“ Aus diesem höheren
Gesichtspunkte der Verwirklichung einer grossen
nationalen Idee finden die durch Eroberung vollzogenen
Gebietserwerbungen oder Annexionen Preussens), welche die
deutsche Einigung vorbereiteten, wie die, welche früher den
italienischen Nationalstaat begründet hatten, ihre Rechtfertigung
Vvor dem moralischen Gefühl und dem natürlichen Rechts-
1) Die preussischen Annexionen von 1866, durch welche die
bis dahin souveränen Staaten Hannover, Kurhessen, Nassau und
Frankfurt mit Preussen vereinigt wurden, sind aus neuester Zeit das tref-
fendste Beispiel von Gebietserwerb durch debellatio. Der Krieg Preussens
gegen diese Staaten war in jeder Beziehung ein gerechter, nicht nur aus dem
im Text ausgeführten höhern Gesichtspunkte nationaler Entwickelung.
welcher sich gerade diese Staaten bis aufs äusserste widersetzt hatten,
sondern auch weil dieselben durch ihre Teilnahme an den bundeswidrigen
Beschlüssen des Bundestags vom 14. und 16. Juni 1866 sich gegenüber
Preussen eines Rechtsbruchs schuldig gemacht hatten. Im Laufe des
Krieges wurden die Gebiete dieser Staaten militärisch okkupiert und ihre
Regierungen entsetzt. Ein Friedensvertrag ist mit diesen Staaten, deren
Souveräne ins Ausland geflüchtet waren, nicht geschlossen worden. Die
Gebietshoheit Preussens über diese Länder beruht staatsrechtlich auf dem
ihre Vereinigung mit der preussischen Monarchie aussprechenden Gesetze
vom 20. September 1866; völkerrechtlich gründet sie sich ausschliesslich
auf den Rechtstitel der debellatio. Dagegen ist die Gebietshoheit
Preussens über die Elbherzogtümer sowohl gegenüber Dänemark als
gegenüber dem ursprünglich mitberechtigten Oesterreich, eine auf ver-
tragsmässiger Abtretung, auf Zession, berubende.
Vergl. über die preussischen Annexionen die schönen und geist-
vollen Bemerkungen bei Schulze, Einleitung in das deutsche Staats-
recht, 3 123. S. 392 fl.