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internationalen Rechts zu verzeichnen hat, so ist man doch
gerade auf diesem Gebiet, nämlich in den hochbedeutsamen
Fragen des Erwerbs der Gebietshoheit, kaum über den Stand-
punkt von Hugo Grotius hinaus gekommen. Wenn wir nach
dem Grund dieser befremdenden Erscheinung fragen, so
dürfen wir denselben nicht etwa in der Vollkommenheit der
alten Lehre suchen, als ob dieselbe auch heute noch dem
theoretischen wie dem praktischen Bedürfnisse genügte. Im
Gegenteil, die ältere Lehre vom Gebietserwerb beruht weder
auf einer der heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis ent-
Sprechenden theoretischen Grundlage, noch steht sie mit den
Erscheinungen der modernen Staatenpraxis völlig in Einklang.
Der Grund, weshalb ein irgend bedeutsamer Fortschritt,
auf diesem Gebicte nicht stattgefunden hat, dürfte einesteils
in der äusseren Vernachlässigung eines Gegenstandes zu
suchen sein, der bis in die neueste Zeit lange kein aktuelles
internationales Interesse mehr geboten hatte. Vor allem aber
war ein wirklicher Fortschritt der Erkenntnis in der Lehre
vom Gebietserwerb ausgeschlossen, 80 lange die völkerrecht-
liche Doktrin sich nicht von den privatrechtlichen Anschau-
ungen der älteren Schule befreite. Solange man noch mit
dem unklaren Begriff des „Staatseigentums“ operierte und auf
den Erwerb desselben die Sätze des römischen Privatrechts
über den Eigentumserwerb mit geringen Modifkationen an-
wandte, war an eine richtige Auffassung und Konstruktion
des völkerrechtlichen Gebietserwerbs nicht zu denken.
Die Hauptaufgabe einer jeden tiefergehenden Bearbeitung