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zurückführen lässt, so müssten wir einem grossen Teile des
gegenwärtigen Staatenbesitzes den Charakter der Recht-
mässigkeit vom völkerrechtlichen Standpunkt absprechen.
Wenn wir also in der von uns dargestellten Lehre vom Ge-
bietscrwerb nicht eine bloss theoretische Spekulation, sondern
den positiven Ausdruck des Rechtsbewusstseins der modernen
Staaten und Völker erblicken, so würden wir zu dem trau-
rigen Resultate gelangen, dass die thatsächliche Gestaltung
der Dinge mit diesem Rechtsbewusstsein in unlösbarem Wider-
spruch stünde. Das Völkerrecht würde sich dann nicht als
eine Rechtsordnung der bestehenden Staatenverhältnisse dar-
stellen, es wäre nicht lünger eine erhaltende, friedenschützende
Macht, sondern ein mit dem Bestehenden unvereinbarliches,
durchaus revolutionäres Prinzip.
Unsere Lehre bedarf daher, wenn wir sic nicht nur auf
die Beurteilung künftigen Gebietserwerbs anwenden, sondern
auch zu einer rechtlichen Kritik des geschichtlichen Werde--
Drozesses der Staatsgebiete benützen wollen, notwendig einer
Ergänzung. Es versteht sich zunächst von selbst und bedarf
kaum der Erwähnung, dass jeder Gebietserwerb nur nach
den völkerrechtlichen Grundsätzen beurteilt werden dart,
welche zur Zeit und am Orte sciner Vollzichung anerkannt
und in Geltung waren. Wir werden also eine zur Zeit der
Patrimonialen Stuatsauffassung auf Grund eines privat- oder
lehnrechtlichen Titels und in entsprechender Form vollzogene
Gebietsübertragung als vollständig rechtmüssig anerkennen
müssen, wenn auch unsere moderne Rechtsanschauung einen