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Wenn wir nun unsererseits zu der vielverhandelten Frage
Stellung nehmen sollen, so glauben wir dieselbe zunächst
dadurch zu klären und zu vereinfachen, dass wir die sog.
Völkerrechtliche Verjährung in zwei streng zu unter-
scheidende Falle zerlegen, deren ziemlich allgemeine Ver-
mengung in der bisherigen Litteralur viele Verwirrung ange-
richtet hat. Wir müssen unterscheiden die Verjährung als
Präsumtion und die Verjährung als Rechtssatz.
Zweifellos kann der lange dauernde, ungestörte Besitz
eines früher von einem andern Staate beherrschten Gebiets
zu gunsten des gegenwärtigen Besitzers die Vermutung be-
gründen, dass der frühere Besitzer auf seine Herrschaftsrechte
verzichtet habe. Eine derartige Dereliktionsabsicht kann sich
jedoch auch in anderer Weise kundgeben. Sobald aber sowohl
die Absicht als die Thatsache der Dereliktion seitens des
bisherigen Besitzers feststeht, ist das derelinquierte Gebiet
ein völkerrechtlich herrenloses, an welchem von jedem andern
Staate durch Okkupation die Gebietshobeit erworben werden
kann, ohne dass es zur Begründung dieses Rechts noch erst
des Ablaufs einer gewissen Zeit beldürfte. Anderseits braucht
ein noch so langer fremder Besitz nicht notwendig auf eine
Dereliktionsabsicht des berechtigten Staates schliessen zu
lassen; eine solche Vermutung kann jederzeit durch eine
niemand so seltsam sein, mir diesen und andere ähnliche Sätze, als die
meinige, auf meine Rechnung schreiben, oder Schuld geben, als ob ich
alle Grundfesten des Völkerrechts einreisse; ich thue es vicht,
sondern die europäischen Staaten thun es, und lassen die Schullehrer
und Schriftensteller schwatzen und schreiben, was sie wollen.“
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