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geizigerer und Geschickterer wird ihn in gleicher Weise bestrafen, wird in seine
Staaten einfallen und ihm mit derselben Grausamkeit den Untergang bereiten, die
er gegen seinen Vorgänger ausübte.
Der zweite Grundsatz Machiavellis ist, daß der Eroberer seine Residenz in
seinen neuen Staaten aufschlagen muß. Das ist nicht grausam und scheint sogar
in gewisser Hinsicht gut zu sein; aber es ist zu bedenken, daß die meisten Staaten
großer Fürsten so gelegen sind, daß sie eines Mittelpunktes nicht wohl entbehren
können, ohne welchen der ganze Staat leidet; sie sind der vornehmste Quell der
Lebenstätigkeit dieses Körpers, demnach können sie den Mittelpunkt nicht verlassen,
wenn die Glieder nicht dahinsiechen sollen.
Der dritte politische Grundsatz lautet, daß es erforderlich ist, in den neuen
Gelieten Kolonien anzusiedeln, um der Gefahr des Abfalls vorzubeugen. Der Ver-
fasser stützt sich hierbei auf den Brauch der Römer; aber er bedenkt nicht, daß,
wenn die Römer nicht gleichzeitig Legionen in die eroberten Gebiete geschickt
hätten, sie ihre Eroberungen sehr bald würden verloren haben; er bedenkt ferner
nicht, daß neben den Kolonien und Legionen die Römer auch Bundesgenossen zu
gewinnen wußten. Die Römer waren in der glücklichen Zeit der Republik die
klügsten Räuber, die je die Erde verheert haben; mit Klugheit behaupteten sie,
was sie durch Ungerechtigkeit erworben hatten. Aber zuletzt geschah diesem Volke,
was jedem Thronräuber geschieht: es kam auch an die Reihe und wurde zu
Boden geworfen
„Ein Fürst muß die kleinen benachbarten Fürsten an sich fesseln und unter
seinen Schutz nehmen und Zwietracht unter sie säen, damit er erheben oder unter-
drücken kann, welchen er will.“ Das ist der vierte Grundsatz Machiavellis; es ist
derselbe, den Chlodwig befolgte, der erste Barbarenkönig, der sich zum Christen-
tume bekehrte. Er ist von einigen nicht minder grausamen Fürsten nachgeahmt
worden; aber welcher Unterschied zwischen diesen Fürsten und einem ehrlichen
Manne, der der Vermittler zwischen diesen kleinen Fürsten sein, ihre Streitig-
keiten in Güte schlichten, durch seine Rechtschaffenheit, durch die Beweise einer
vollständigen Unparteilichkeit bei ihren Händeln und gänzlicher Uneigennützigkeit
ihr Vertrauen gewinnen würde! Seine Klugheit würde ihn zum Vater anstatt
zum Unterdrücker seiner Nachbarn machen, und seine Größe würde sie beschützen,
anstatt sie zu verderben.
Überdies ist es Tatsache, daß Fürsten, die andere Fürsten mit Gewalt erheben
wollten, sich selbst zugrunde gerichtet haben. Unser Jahrhundert bietet zwei Bei-
spiele dafür: das eine ist das Karls XII., der Stanislaus auf den polnischen Thron
erhob, und das andere ist neuer.
Aus dem bisherigen ergibt sich also, daß der Thronräuber niemals Anspruch
auf Ruhm haben wird; daß Meuchelmörder vom menschlichen Geschlecht stets
werden verabscheut werden; daß Fürsten, die Ungerechtigkeiten und Gewalttaten
gegen ihre neuen Untertanen begehen, sie sich entfremden werden, anstatt sie zu
gewinnen; daß es nicht möglich ist, das Verbrechen zu rechtfertigen, und daß alle
die, die es werden verteidigen wollen, ebenso unvernünftig urteilen werden als
Machiavelli. Das Denkvermögen gegen die Wohlfahrt der Menschheit anwenden,
heißt, sich mit einem Degen verwunden, der uns nur zur Verteidigung gegeben
ist
Es gibt zwei Arten von Fürsten in der Welt: solche, die alles mit ihren
eigenen Augen sehen und ihre Staaten selbst regieren; und solche, die sich auf