Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Zweiter Teil. Deutsche, vornehmlich brandenburgisch-preußische Geschichte bis 1815. (2)

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Stunden, die er ungern der Tätigkeit auf den Wällen unter dem Kugelregen ab- 
brach, ruhte er auf einer Pritsche in einem armseligen Gemach über dem Lauen- 
burger Tore, jeden Augenblick bereit, mich oder andere anzuhören, wenn wir ihm 
etwas von Wichtigkeit zu melden hatten. Vater und Freund des Soldaten wie des 
Bürgers, hielt er beider Herzen durch den milden Ernst seines Wesens wie durch 
teilnehmende Freundlichkeit gefesselt. Jeder seiner Anordnungen folgte unbedingtes 
Vertrauen. Es schien unmöglich, daß sein geprüfter Wille und Befehl sich nicht 
stracks auch in den allgemeinen Willen verwandelte. Selbst die Unfälle, die uns 
trafen, konnten in diesem treuen Glauben an seine hohe Trefflichkeit nichts 
mindern; denn nur zu klar erkannten wir darin die herben Früchte nicht seines, 
sondern eines früheren Versäumnisses. 
Der Morgen des 2. Julius brach an, aber auch das feindliche Bombardement 
schien mit dem Morgen wieder neue Kräfte zu gewinnen. Not und Elend, 
Jammergeschrei und Auftritte der blutigsten Art, einstürzende Gebäude und 
prasselnde Flammen — das war fast das einzige, was bei jedem Schritte den 
entsetzten Sinnen sich darstellte. Nur wenigen war es gegeben, in diesem ent— 
scheidenden Zeitpunkte Mut und besonnene Fassung zu behaupten; noch wenigere 
vielleicht erhielten die Hoffnung eines glücklichen Ausganges in sich lebendig; aber 
alle ohne Ausnahme gaben das Beispiel einer willigen Ergebung in das un- 
vermeidliche Schicksal. Sie hatten es in Gneisenaus Hand gelegt; mit ihm standen, 
mit ihm fielen sie. Vertrauensvoll ließen sie ihn walten. 
Höher aber und höher stiegen Gefahr und Not von Stunde zu Stunde. 
Man sah sich genötigt, brennen zu lassen, was brennen wollte. Niemand wußte, 
ob es dringender sei, dem Feinde von außen zu wehren, oder die Flammen zu 
löschen, oder das eigene kümmerliche Leben vor den rings umhersausenden Feuer- 
bällen zu wahren. Des Feindes Mut und Anstrengung aber wuchs in eben dem 
Maße, als die Werkzeuge seiner Zerstörung sich in ihrer furchtbaren Wirksamkeit 
offenbarten. - 
Gneisenaus scharfes Auge, das mitten in diesem gräßlichen Tumulte jede Be— 
wegung seines Gegners hütete, ließ es nicht unbeachtet, daß dieser bereits Vor- 
bereitungen traf, sich von der Wolfsschanze aus auch über das Münderfort herzu- 
stürzen und so auch die östliche Seite des Hafens zu überwältigen. Gegenanstalten 
wurden auf der Stelle getroffen, den bedrohten Punkt aufs kräftigste zu unter- 
stützen; Befehle flogen, alles war in der lebendigsten Anspannung, und ein neuer 
Kampf von blutigster Entscheidung sollte losbrechen. Es war 3 Uhr des Nach- 
mittags — da plötzlich schwieg das feindliche Geschütz auf allen Batterien. Auf 
das Krachen eines Donners wie am Tage des Weltgerichts folgte eine lange, öde 
Stille. Jeder Atem bei uns stockte; niemand begriff diesen Wechsel, dies schauer- 
liche Erstarren so gewaltiger losgelassener Kräfte. 
Da nahte ein feindlicher Parlamentär und neben ihm ein Mann, den man 
in der Ferne als eine Militärperson, dann aber, sowie die Umrisse der Gestalt 
sich immer deutlicher ausbildeten, unter Zweifel und Verwunderung sogar als 
einen preußischen Offizier erkannte . . Sein erstes Wort war, als er sich fast 
atemlos in den Kreis stürzte: „Friede, Kolberg ist gerettet!“ O des Freudenboten! 
O der willkommenen Botschaft, die noch zur rechten Zeit gekommen! Er war 
unmittelbar aus dem Hauptquartier des Königs zu Piktupönen bei Tilsit als 
Kurier abgefertigt und der Uberbringer der Nachricht von einem mit Napoleon 
abgeschlossenen vierwöchigen Waffenstillstande, dem unverzüglich der Friede folgen
	        
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