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Stunden, die er ungern der Tätigkeit auf den Wällen unter dem Kugelregen ab-
brach, ruhte er auf einer Pritsche in einem armseligen Gemach über dem Lauen-
burger Tore, jeden Augenblick bereit, mich oder andere anzuhören, wenn wir ihm
etwas von Wichtigkeit zu melden hatten. Vater und Freund des Soldaten wie des
Bürgers, hielt er beider Herzen durch den milden Ernst seines Wesens wie durch
teilnehmende Freundlichkeit gefesselt. Jeder seiner Anordnungen folgte unbedingtes
Vertrauen. Es schien unmöglich, daß sein geprüfter Wille und Befehl sich nicht
stracks auch in den allgemeinen Willen verwandelte. Selbst die Unfälle, die uns
trafen, konnten in diesem treuen Glauben an seine hohe Trefflichkeit nichts
mindern; denn nur zu klar erkannten wir darin die herben Früchte nicht seines,
sondern eines früheren Versäumnisses.
Der Morgen des 2. Julius brach an, aber auch das feindliche Bombardement
schien mit dem Morgen wieder neue Kräfte zu gewinnen. Not und Elend,
Jammergeschrei und Auftritte der blutigsten Art, einstürzende Gebäude und
prasselnde Flammen — das war fast das einzige, was bei jedem Schritte den
entsetzten Sinnen sich darstellte. Nur wenigen war es gegeben, in diesem ent—
scheidenden Zeitpunkte Mut und besonnene Fassung zu behaupten; noch wenigere
vielleicht erhielten die Hoffnung eines glücklichen Ausganges in sich lebendig; aber
alle ohne Ausnahme gaben das Beispiel einer willigen Ergebung in das un-
vermeidliche Schicksal. Sie hatten es in Gneisenaus Hand gelegt; mit ihm standen,
mit ihm fielen sie. Vertrauensvoll ließen sie ihn walten.
Höher aber und höher stiegen Gefahr und Not von Stunde zu Stunde.
Man sah sich genötigt, brennen zu lassen, was brennen wollte. Niemand wußte,
ob es dringender sei, dem Feinde von außen zu wehren, oder die Flammen zu
löschen, oder das eigene kümmerliche Leben vor den rings umhersausenden Feuer-
bällen zu wahren. Des Feindes Mut und Anstrengung aber wuchs in eben dem
Maße, als die Werkzeuge seiner Zerstörung sich in ihrer furchtbaren Wirksamkeit
offenbarten. -
Gneisenaus scharfes Auge, das mitten in diesem gräßlichen Tumulte jede Be—
wegung seines Gegners hütete, ließ es nicht unbeachtet, daß dieser bereits Vor-
bereitungen traf, sich von der Wolfsschanze aus auch über das Münderfort herzu-
stürzen und so auch die östliche Seite des Hafens zu überwältigen. Gegenanstalten
wurden auf der Stelle getroffen, den bedrohten Punkt aufs kräftigste zu unter-
stützen; Befehle flogen, alles war in der lebendigsten Anspannung, und ein neuer
Kampf von blutigster Entscheidung sollte losbrechen. Es war 3 Uhr des Nach-
mittags — da plötzlich schwieg das feindliche Geschütz auf allen Batterien. Auf
das Krachen eines Donners wie am Tage des Weltgerichts folgte eine lange, öde
Stille. Jeder Atem bei uns stockte; niemand begriff diesen Wechsel, dies schauer-
liche Erstarren so gewaltiger losgelassener Kräfte.
Da nahte ein feindlicher Parlamentär und neben ihm ein Mann, den man
in der Ferne als eine Militärperson, dann aber, sowie die Umrisse der Gestalt
sich immer deutlicher ausbildeten, unter Zweifel und Verwunderung sogar als
einen preußischen Offizier erkannte . . Sein erstes Wort war, als er sich fast
atemlos in den Kreis stürzte: „Friede, Kolberg ist gerettet!“ O des Freudenboten!
O der willkommenen Botschaft, die noch zur rechten Zeit gekommen! Er war
unmittelbar aus dem Hauptquartier des Königs zu Piktupönen bei Tilsit als
Kurier abgefertigt und der Uberbringer der Nachricht von einem mit Napoleon
abgeschlossenen vierwöchigen Waffenstillstande, dem unverzüglich der Friede folgen