Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Zweiter Teil. Deutsche, vornehmlich brandenburgisch-preußische Geschichte bis 1815. (2)

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Menschheit nicht einzig aussprechen, sondern in allen mit allen. So wenig wie 
ein Gesicht gibt es auch nur eine Denkungsart und Handlungsweise. Nicht einen 
und ebendenselben Charakter, sondern nur einen eigenen soll jeder Mensch sich 
bildend erwerben und so aus dem Eigengegebenen selbstgeschaffen hervorgehen. 
Beide, Freund und Feind, verachten den charakterlosen Nichts, wenn sie jede Ur— 
sprünglichkeit ehen . 
Das Streben nach Einheit ist das schönste Weihgeschenk der Mensch- 
heit, ein Gott, ein Vaterland, ein Haus, eine Liebe. Und das Einheits- 
verlangen ist das erste Sichselbstbewußtwerden eines beginnenden 
Volks. Wo es noch schlummert, kann es immer neu geweckt werden durch Natur 
und Wahrheit ohne Künsteln und Gängeln. Zur Sonne schwingt sich der Adler 
mit erhabenem Flug, auf der Erde kriecht die Schlange in krummen Windungen, 
und die gerade Bahn ist der kürzeste Weg zum Ziel. Sie heißt Teilnahme der 
einzelnen Staatsbürger am Wohl und Weh des Ganzen, Entfernung der Ab- 
sonderung, Hinleiten zum Gemeinwesen . 
In der ganzen Lebensgeschichte eines Volkes ist sein heiligster Augenblick, wo“ 
es aus seiner Ohnmacht erwacht, aus dem Scheintode auflebt, sich seiner zum ersten 
Male selbst bewußt wird, an seine heiligsten Vorrechte denkt und an die ewige 
Pflicht, sie zu behaupten; endlich erkennt, daß es nur durch Selbstmord seiner 
Volkstümlichkeit sich unter anderen Völkern verlieren kann. Es ist ein lang- 
ersehnter Schöpfungsbeginn, wenn ein Volk nach dem Verlauf schrecklicher Jahre 
sich selbst, der Zeitgenossenschaft und der Nachwelt laut und frei und ohne Rück- 
halt offenbaren darf, in welche volkentwürdigende Dienstbarkeit es durch Aus- 
länderei geraten war. Ein Volk, das mit Lust und Liebe die Ewigkeit 
seines Volkstums auffaßt — — — kann zu allen Zeiten sein Wieder- 
geburtsfest und seinen Auferstehungstag feiern. 
103. 
Heinrich v. Kleist. 
Quelle: Katechismus der Deutschen), abgefaßt nach dem Spanischen, 
zum Gebrauch für Kinder und Alte in 16 Kapiteln, in Heinr. v. Kleists 
Politischen Schriften, herausgeg. von Rudolf Köpke. Berlin 1862. 
Fundort: Tim Klein, Die Befreiung 1813, 1814, 1815. Ebenhausen bei München. 1913. S. 96—100. 
Von Deutschland überhaupt. 
Frage. Sprich, Kind, wer bist du? 
Antwort. Ich bin ein Deutscher. 
Fr. Ein Deutscher? Du scherzest. Du bist in Meißen geboren, und das Land, 
dem Meißen angehört, heißt Sachsen! 
Antw. Ich bin in Meißen geboren, und das Land, dem Meißen angehört, 
heißt Sachsen; aber mein Vaterland, das Land, dem Sachsen angehört, ist 
Deutschland, und dein Sohn, mein Vater, ist ein Deutscher. 
Fr. Du träumest! Ich kenne kein Land, dem Sachsen angehört, es müßte 
denn das rheinische Bundesland sein. Wo find ich es, dies Deutschland, von dem 
du sprichst, und wo liegt es? 
1) Kleist verfaßte den Katechismus im Jahre 1809. Er lebte damals in Prag und 
wollte ihn in der Germania veröffentlichen, einer von ihm geplanten Zeitschrift, deren 
Druck jedoch verboten wurde.
	        
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