Full text: Wilhelm Heinzes Quellen-Lesebuch zur vaterländischen Geschichte für Lehrerbildungsanstalten und höhere Schulen. Zweiter Teil. Deutsche, vornehmlich brandenburgisch-preußische Geschichte bis 1815. (2)

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mit ihnen teilten oder wenn sie, außer den Mühseligkeiten des Weges, nicht noch 
den Gefahren des Kampfes mit den uns nun wieder begleitenden Kosaken und 
ihrem Hohn und ihren Mißhandlungen bei möglicher Gefangenschaft ausgesetzt 
waren. 
Fiel ja von den noch wenigen Pferden einmal eines, so stürzten ganze 
Trupps ausgehungerter Menschen sich darauf und zerlegten es so sorgfältig, daß 
nicht ein Lot Fleisch mehr am Kadaver blieb. Sie zankten sich um die Stücke, und 
nicht selten artete ein derartiger Zank in Verwundung oder Mord aus. 
Mühsam schleppte man sich fort, sich selbst überlassen, durch unermeßliche 
Tannenwälder oder Schneefelder dahin. Alle Waffenbrüderschaft, alles Gefühl von 
Menschlichkeit und Mitleiden verschwand vor dem instinktmäßigen Trieb der Selbst- 
erhaltung. 
Grausam führten wir Krieg unter uns selbst; denn man konnte mit Recht 
figürlich sagen, daß der Stärkere den Schwächeren aufzehrte. Uberall, wohin die 
Blicke fielen, sah man nichts als Abscheulichkeiten und Tod; überall das Geschrei 
und Achzen der Unglücklichen, die ihre Kräfte verloren hatten und, hilflos auf dem 
Wege hingestreckt liegend, gegen die schreckliche Todesangst kämpfend, zehnmal 
starben, ehe sie verschieden. 
Auf allen Seiten sah man bei den Lebenden vom Frost und Rauch der 
Biwakfeuer entstellte Gesichter, überall in ihren wilden Zügen Bestürzung, Schmerz, 
Hunger und Tod. 
Auch denke man sich die Verwirrung, die bei einem Haufen zahlloser Menschen, 
fast aus allen Ländern Europas und von den entgegengesetzten Charakteren, 
herrschen mußte. Es war ein Quodlibet von Sprachen, so daß man sich in die 
Zeiten des Turmbaus zu Babel versetzt glaubte, soviel verschiedene und unver- 
ständliche Sprachen hörte man. 
Dies war ein Beweggrund zu verschiedenen Landsmanmvereinen, die sich 
gegen die, welche ihnen fremd waren, durch nichts anderes ankündeten, als durch 
Haß und Verachtung. Sie überhäuften sich, besonders aus Anlaß der Teilung von 
Biwakfeuern oder nächtlichen Lagerstätten, mit Schmähungen und gegenseitigen 
tätlichen Mißhandlungen, die oft in Mord übergingen, der hier ungeahndet ver- 
übt werden durfte. Unter allen diesen nationalen Vereinen übertraf aber keiner 
an Brutalität die Franzmänner, die, an Herrschsucht gewöhnt, ihre früheren An- 
sprüche auch jetzt nicht aufgeben wollten. Sie glaubten sich berechtigt, zum Nach- 
teil anderer alles an sich zu reißen, was ihnen gefiel. Der entschiedenste Haß aller 
anderen Nationen sprach sich gegen sie aus, und so entstanden stündlich Schlägereien, 
die immer mit Wunden oder Tod endeten. 
Um diesem fürchterlichen Jammer, der auf uns lastete, einigermaßen zu 
widerstehen, mußte man mit kraftvoller Seele, mit unerschütterlichem Mute be- 
gabt sein. 
Da der Tod sich stündlich unter den greulichsten Gestalten zeigte, so ge- 
wöhnte man sich, sozusagen mit ihm vertraut zu sein, ihm furchtlos ins Angesicht 
zu sehen. 
Taub bei dem Geschrei des Schmerzes setzte man seinen Weg fort, ohne sich 
umzusehen oder im mindesten gerührt zu werden. So wurden diese unglücklichen 
Schlachtopfer auf dem eisigen Totenbette verlassen, ohne die kleinste Hilfeleistung 
zu erhalten, ohne von irgend jemand ein Wort des Trostes zu hören. Einige 
waren sogar grausam genug geworden, über ihre Leiden zu spotten.
	        
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