— 206 —
maßen an: „Meine Herren, ich sollte um 11 Uhr einen zweiten Vortrag halten,
ich werde die Zeit aber benutzen, um über einen Gegenstand mit Ihnen zu
sprechen, der wichtiger ist. Der Aufruf Seiner Majestät an die Jugend, sich frei—
willig zu bewaffnen, ist erschienen oder wird noch heute an Sie ergehen. Dieser
wird Gegenstand meiner Rede sein. Machen Sie meinen Entschluß allenthalben
bekannt. Ich erwarte so viele, als der Raum zu fassen vermag.“
Die Bewegung in der Stadt war grenzenlos, alles wogte hin und her, jeder
wollte etwas erlauschen, irgend etwas vernehmen, das der immer stärker heran—
wachsenden Gärung eine bestimmte Richtung geben konnte; Unbekannte sprachen
sich an und standen sich Rede, die vielen Tausende, die aus allen Gegenden nach
Breslau strömten, wogten mit den aufgeregten Einwohnern auf den Straßen,
drängten sich zwischen heranziehende Truppen, Munitionswagen, Kanonen,
Ladungen von Waffen aller Art; ein ausgesprochenes Wort, wenn es irgend eine
Beziehung auf die Angelegenheiten des Staates hatte, wurde urplötzlich und wie
mit gewaltiger, lauter Stimme von allen gehört. Noch waren die zwei zwischen—
liegenden Stunden kaum zur Hälfte verflossen, als eilig und mit heftiger Auf—
regung eine große Masse meiner Wohnung, in der sich mein Hörsaal befand, zu-
strömte. Der Hörsaal war gedrängt voll. In den Fenstern standen viele, die Tür
konnte nicht geschlossen werden, auf dem Korridor, auf der Treppe, selbst auf
der Straße bis in bedeutender Entfernung von meinem Hause wimmelte es von
Menschen. Es dauerte lange, ehe ich den Weg zu meinem Katheder fand . Ich
hatte diese zwei Stunden in einem seltsamen Zustande zugebracht. Was ich sagen
wollte, regte mein ganzes innerstes Dasein aufj ich sollte jetzt und unter solchen
Verhältnissen aussprechen, was fünf Jahre hindurch zentnerschwer auf meinem
Gemüte gelastet hatte; ich sollte der Erste sein, der nun öffentlich laut aussprach,
wie jetzt der Rettungstag von ganz Deutschland, ja von ganz Europa da war.
Die innere Bewegung war grenzenlos. Vergebens suchte ich Ordnung in meine
Gedanken zu bringen, aber Geister schienen mir zuzuflüstern, mir Beistand zu ver-
sprechen, ich sehnte mich nach dem Ende dieser quälenden Einsamkeit; nur ein
Gedanke trat vorherrschend hervor: Wie oft hast du dich beklagt, sagte ich mir,
daß du hier in diese Ecke von Deutschland hingeschleudert wurdest, und sie ist jetzt
der alles ergreifende, begeisternde Mittelpunkt geworden; hier fängt eine neue
Epoche in der Geschichte an, und was diese wogende Menschenmenge bewegt,
darfst du aussprechen. Tränen stürzten mir aus den Augen, ich fiel auf die Knie,
ein Gebet beruhigte mich. So trat ich unter die Menge und bestieg mein
Katheder. Was ich sprach, ich weiß es nicht, selbst wenn man mich nach dem
Schlusse der Rede gefragt hätte, ich würde keine Rechenschaft davon ablegen
können. Es war das drückende Gefühl unglücklich verlebter Jahre, das jetzt Worte
fand; es war das warme Gefühl der zusammengepreßten Menge, das auf meiner
Zunge ruhte. Nichts Fremdes verkündete ich. Was ich sagte, war die stille Rede
aller, und sie machte eben deswegen wie ein Echo aus der eigenen Seele eines
jeden einen tiefen Eindruck. Daß ich, indem ich die Jugend so aufforderte, zugleich
meinen Entschluß erklärte, mit ihnen den Kampf zu teilen, versteht sich von selbst.
Nach geschlossener Rede stand ich wieder in der einsamen Stube. Das ist nun
getan, sprach ich, und fühlte mich erleichtert, als wäre eine schwere Last mir von
der Brust gewälzt. Aber eine neue Sorge drängte sich mir auf. Jetzt, sagte ich
mir, nach dieser Stunde ist deine ganze Stellung im Leben verändert, du bist
durch dein Versprechen ein Krieger geworden, und wie soll der Entschluß aus-