Soziale
Geschichte.
Der Begrifl
der Geschichte.
Geltendes un-
richtiges Recht.
62 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft.
sich widerstreitenden Forderungen und Strömungen begründetermaßen
auszuwählen. Denn ein solches Empfinden, das dazu geeignet wäre, bringt
niemand mit auf die Welt; es ist in seinem jeweils bedingten Bestande abhängig
von ungezählten und unübersehbaren Einflüssen. Auf das ‚freie‘ Urteilen als
solches kann man sich nicht verlassen, wenn es gilt, objektiv begründet
zu wollen. Es ist nötig, für die Aufgabe, praktische Rechtsfragen im Sinne
erundsätzlicher Richtigkeit zu erledigen, eine wissenschaftliche Er-
wägung eintreten zu lassen.
IIL Die Geschichte des Rechtes. Die geschichtliche Betrach-
tung hat es mit der Veränderung und den wechselnden Schicksalen eines Gegen-
standes zu tun. Sie betrachtet also den Wandel seiner unwesentlichen Be-
sonderheiten, während sein Wesen, als Einheit seiner bleibenden Bestim-
mungen, unveränderlich ist.
Die soziale Geschichte zeigt den Fortgang der Art des menschlichen
Zusammenwirkens. Sie ist also eine Geschichte von Zwecken. Jedes
einzelne Ziel kann auch nach der Seite seiner ursachlichen Entstehung natur-
wissenschaftlich erörtert werden: das Ganze der sozialen Geschichte ist aber ein
fortlaufende Kette menschlicher Bestrebungen.
In welchem Sinne kann nun die Menschengeschichte als ein einheit-
licher Entwicklungsprozeß erfaßt werden, — was ist ‚die Geschichte‘‘ der
Menschen? — Sie kann nicht ein einfaches Naturgeschehen sein, denn sie soll
ja die zeitliche Folge des menschlichen Wollens wiedergeben. Dieses hat als
gemeinsam bedingende Richtlinie nur die Idee des freien Wollens (E. ı), die
für das soziale Leben als Idee der reinen Gemeinschaft hervortritt (E. 3). Nennt
man das nach ihr gerichtete Zusammenwirken das gemeinschaftliche Wollen,
so ergibt sich: Die Geschichte der Menschheit ist das Fortschreiten
ihres gemeinschaftlichen Wollens. Ein besonderes geschichtliches Ereig-
nis ist dann wissenschaftlich bestimmt, wenn es in seinem Einfügen oder
in seinem Widerspruche zu jenem Grundgedanken eingesehen wird.
Der Gedanke des Fortschreitens führt die Vorstellung des Überwindens
früherer, nicht begründeter Möglichkeiten mit sich. So muß es notwendig Zu-
stände geben, in denen zunächst ein Widerstreit des Hergebrachten mit dem
als besser Angestrebten stattfindet; und dann entstehen im praktischen Leben
schwierige Fragen.
Das zeigt sich in besonderer Stärke bei der Ausführung von geltendem
Rechte durch die dazu berufenen Personen, in Verwaltung und Rechtsprechung.
Das Wesen des Rechtes fordert es, daß seine Satzung unverletzt und ungebrochen
nach dem Inhalte ihres Wollens gehalten und verwirklicht werde. Wer zur
Betätigung und Durchsetzung des Rechtes berufen ist, er soll lernen, den Gegen-
satz von Geltung und von Richtigkeit des Gesetzesbefehls zu beachten
und als selbstverständlich zu nehmen, damit er nötigenfalls auch verstehe, ein
geltendes unrichtiges Recht zu künden und zu vollstrecken, in treuem Ge-
horsam und sonder Gefährde. Es kann nur zu leicht geschehen, daß ein Ge-