Full text: Sozialdemokratie, Christentum, Materialismus und der Krieg.

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einen gesellschaftlichen Wert hat, d. h. daß es seinen Wert nur in und 
durch die Gesellschaft besitzt, infolgedessen gehört es überhaupt nicht 
denen, die es gesellschaftlich verwenden können, sondern es gehört der 
Gesellschaft, der das vollständige Verfügungsrecht darüber zusteht. Dem 
Einzelnen wird unter dem Begriff „Privateigentum“ von der Gesell- 
schaft nur eine erwerbbare und vererbbare Dispositionsgewalt über 
irdische Güter verliehen, die in der Form der kapitalistischen Wirt- 
schaftsweise den Besitzer zu erhöhter Tätigkeit im Dienste des Ganzen 
anspornen soll. 
Von diesem Standpunkt aus ist es die sittliche Pflicht der Ge- 
sellschaft, dafür zu sorgen, daß mit dem Vermögen zum Schaden des 
Ganzen kein Mißbrauch getrieben wird, d. h. daß der Reichtum nicht 
in den Händen solcher Leute bleibt, dic ihn in unsinniger und unsittlicher 
Weise verschwenden und die sich dabei noch von jeder nützlichen Tätigkeit 
drücken können. Nicht nur das Produkt der Arbeit gehört der Gesell- 
schaft, sondern auch die Arbeitskraft. Die von der Gesellschaft in dieser 
Beziehung gewährleistete Freiheit hat inbezug auf die Gesellschaft selbst 
nur einen relativen Wert, sie kann also jederzeit den Bedürfnissen der 
Gesellschaft entsprechend eingeschränkt werden. 
. Wenn der große Reichtum durch steuerliche Abgaben empfindlich 
geschmälert wird, so ist dieses sicher kein nationales Unglück, sofern dieses 
Geld für werbende Anlagen und innere Kolonisation ausgegeben wird: 
auf diese Weise steigert es die Produktion und kommt überhaupt dem 
Kapitalismus am letzten Ende wieder zugute. Für die Zukunft einer 
Nation ist es überhaupt von der größten Bedeutung, daß sie eine Unter- 
schicht mit guter Lebenshaltung und einen wohlhabenden Mittelstand 
hat. Wenn der Kapitalismus schließlich das Proletariat zur Voraus- 
setzung hat, so gebraucht es ihn auch anderseits als Konfumenten. Vom 
Standpunkt der Produktion kommt auch dazu, daß, je mehr Aussicht 
der Proletarier und zwar hauptsächlich der in gehobener Lebensstellung 
hat, zu Besitz und Eigentum zu kommen, je mehr er sich anstrengt, aus 
sich herauszuholen, was möglich ist. D. h. derjenige, der für seinen 
eigenen Vorteil denkt und arbeitet, gibt sich mehr Mühe als derjenige, 
der für den Vorteil seines Brotherrn tätig ist, ganz abgesehen Vavon. 
daß sich in der Unabhängigkeit Kraft und Charakter ganz anders ent- 
falten können als in der Abhängigkeit. 
Je leichter es ist, zu Besitz und zu einer auskömmlichen Existenz 
zu kommen, je geringer find die Sorgen für den Nachwuchs und je mehr 
fallen die Gründe fort, diesen zu beschränken. Und da schließlich das 
Ansammeln von Reichtum doch nur für eine möglichst unabhängige und 
gesicherte Existenz der Nachkommen gelten soll, so wird die Habsucht 
und Geldgier schon dadurch gemildert, daß dem Nachwuchs das Er-