Full text: Sozialdemokratie, Christentum, Materialismus und der Krieg.

Vorwort. 
Wenn in letzter Zeit der politische Kampf in Deutschland oft 
eine unzulässige Gehässigkeit und Erbitterung angenommen hat, so 
gat dieses mehr an Oberflächlichkeit der Kämpfenden gelegen als an 
achkenntnis. Man wollte gewissermaßen mit Grobheit über den 
Mangel an Gründlichkeit wegtäuschen. Dieses Eigenartige des Kampfes 
zeigt sich darin, daß die Sozialdemokratie mit volkswirtschaft- 
lichen Argumenten der Theologie des Christentums entgegentritt, 
ohne zu berücksichtigen, daß das Christentum neben der Theologie 
auch eine Philosophie hat, die im Katholizismus in Thomas von 
Aquino und im Protestantismus in Kant ihre bedeutenden Inter- 
preten gefunden hat. Die Kirche tritt hingegen mit der Ethik des 
Christentums, an die sie sich selbst nicht hält, einer Philosophie der 
Sozialdemokrarie entgegen, die gar nicht vorhanden ist. — 
—-DiesesgegenseitigeVerkennenundVorbeifchen,foweitesnicht 
Hochmut und Heuchelei ist, hat mich veranlaßt, die in Deutschland 
vorherrschenden Weltanschauungen einmal in ihrer philosophischen 
Bedeutung, auf die es schließlich allein ankommt, sich gegenüber zu 
stellen und zwar habe ich den Katholizismus in der Philosophie des 
Thomas von Aquino, den Protestantismus in derjenigen von Kant 
und dielenige. der Sozialdemokratie in den volkswirtschaftlichen 
Lehren von Marx und Engels im Zusammenhang dargestellt, da sie 
hierdurch nur verstanden werden können, zumal ich nicht voraussetze, 
daß diese Lehren in den Kreisen allgemein bekannt sind, für die 
diese Schrift gedacht ist, und für die sie in der Polikik auf philo- 
sophischem Gebiet zur Orientierung dienen soll. « 
Im dritten Abschnitt der vorliegenden Schrift bringe ich meine 
eigene Weltanschauung, die den Vorzug hat, daß sie für ihre ethischen 
Folgerungen das menschliche Geschehen in der Welt so nimmt, wie es 
ist, und nicht wie es sein könnte, oder wie es nach der Ansicht un- 
maßgeblicher Idealisten sein müßte. Ich verhehle mir durchaus nicht, 
daß noch vielen gegenwärtigen Zeitgenossen mit einer nüchternen 
Wirklichkeitslehre nicht gedient ist, sondern daß diese es vorziehen, 
den Gewohnheiten und den Interessen entsprechend dem Gebiet einer 
zügellosen Phantasie treu zu bleiben. Für die Richtigkeit meiner 
Weltanschauung ist solches aber belanglos, denn diese läßt nicht allein 
die Urteilsfähigkeit der Gegenwart für sich sprechen, sondern noch 
mehr die Erfahrungen der Zukunft. Und hierbei ist es nicht aus- 
geschlossen, daß bei dem Tempo der Kulturentwicklung der Jetztzeit 
die eine Generation schon das als selbstverständlich ansieht, das für 
die vor ergehende noch im Bereich der Unmöglichkeit und Unwahr- 
scheinlichkeit lag. 
Oschersleben, Juli 1918. 
Adolf Hinze.