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entsprechend auch geraume Zeit in Anspruch nimmt. Überhaupt in
der Mathematik, in der Nationalökonomie, in materialistischer Philo-
sophie und in den reinen Naturwissenschaften haben die Franzosen der
Menschheit reichlich soviel führende Geister gegeben als jede andere
Kulturnation. Hingegen sind wir Deutschen ihnen überlegen auf dem
Gebiete der angewandten Wissenschaft. Diese letztere Überlegenheit hat
es verursacht, daß der Franzose in wirtschaftlicher Beziehung mit uns
nicht Schritt halten konnte und im Gefühl dieser Schwäche die mangel-
hafte Fähigkeit durch schwülstige Reden zu ergänzen versuchte, womit
er schließlich auf die Dauer sich aber nur selbst getäuscht hat. Es mag
sein, daß es in Frankreich in der Provinz noch eine Bevölkerung gibt,
die uns im Charakter ähnlich ist. Sicher ist diese dort aber gegenwärtig
weder tonangebend noch für die Zukunft von ausschlaggebender Be-
deutung.
Das Unglück der Franzosen liegt, soweit es sich in der Offentlich-
keit bemerkbar macht, in ihrer politischen Unaufrichtigkeit und zwar
hauptsächlich in derjenigen gegen sich selbst. Von einer solchen gegen-
über dem Gegner ist schließlich kein politisches Gebilde ganz frei,
zumal die Politik überhaupt nur die Herbeiführung eines Ausgleichs
von Meinungsverschiedenheiten ist, bei der, um möglichst viel zu er-
reichen, die Kunst und die Tüchtigkeit in der richtigen Übertreibung
liegt. Die Unaufrichtigkeit gegen sich selbst führt aber zur Herrschaft
der Phrase und da diese von Journalisten, Geistlichen und Advokaten
berufsmäßig gepflegt wird, so konnte es diesen nicht schwer fallen, in
Frankreich das politische Heft in die Hand zu bekommen und es im
Interesse ihres Ehrgeizes oder ihrer Habsucht zum Schaden Frankreichs
zu mißbrauchen. Mit Hilfe ihrer Unaufrichtigkeit sind die Franzosen
aber auch die geborenen Diplomaten, die uns mit unserer Ehrlichkeit
immer überlegen waren, die aber nur solange dauernd erfolgreich sein
konnten, als sich die politische Uneinigkeit Deutschlands dabei aus-
nutzen ließ.
Für Frankreich ist es von folgenschwerer Bedeutung gewesen,
daß die Reformation sich dort nicht hat durchsetzen können. Den Fran-
zosen ist es gelungen, den Calvinismus mit seiner christlich-demokrati-
schen Gesellschaftsordnung, dem sich in der Reformationszeit die besseren,
d. h. die denkenden, aufrichtigen und vorwärtsstrebenden Elemente der
Bevölkerung zugewandt hatten, durch die Hugenottenkriege und durch
die Verfolgungen unter Ludwig XIV. vollständig auszurotten und den
königlichen Absolutismus in katholischer Färbung voll und ganz zur
Geltung zu bringen. Da es sich bei dieser Vernichtung wesentlich um
den industriell und kaufmännisch hervorragenden Teil der Bevölkerung
gehandelt hat, so hat sich Frankreich hiermit derartig wirtschaftlich ge-