36
Entsprechend der Gesinnung, die sie für die Bewertung der eigenen
Menschenwürde an den Tag legen, ist diejenige, die sie den Angehörigen
anderer Nationen gegenüber dokumentieren. Eine Nation, die in der
Jetztzeit noch die Unglücklichen und Verirrten der ganzen Welt ver-
führt und sie in ihrer Fremdenlegion als Kolonialopfer sammelt, ver-
dient dafür dieselbe Verachtung als für die militärische Verwendung
der mehr oder weniger verwilderten Angehörigen ihrer Kolonien gegen
unsere deutschen Angehörigen. Aber schließlich ist die Bestialität dieser
Wilden noch harmlos gegenüber derjenigen, die die aus ihren eigenen
Elementen gebildeten Nettoyeurs an den Tag legen mußten. Rechnet
man hierzu noch die traurige Erscheinung, daß die Franzosen im letzten
Krieg ihre Wut und ihren Haß auch an hilflosen Gefangenen aus-
gelassen haben, so wird die Überzeugung doch wohl dauernd bleiben,
daß ein Verkehr von unserer Seite mit ihnen schon aus Gründen der
Reinlichkeit auf das Allernotwendigste zu beschränken ist.
Die Bedeutung Frankreichs für die Kulturentwicklung im Aus-
gang des Mittelalters und noch mehr die Selbstbeweihräucherung unter
der Herrschaft der Phrase mußte die Franzosen notwendig zu einer
politischen Selbstüberhebung führen, die um so schroffer wirkte, je mehr
das kulturelle Frankreich von anderen Nationen überholt wurde. Die
kontinentale Bedeutung Frankreichs hat überhaupt bereits seit der Zeit
des vierzehnten Ludwig an der politischen Zerrissenheit und Bedeu-
tungslosigkeit Deutschlands gelegen. Die Deutschen, denen die Gründ-
lichkeit, Konsequenz und Treue oft mit der Vernunft durchgehen, hatten
die historische Bestimmung, die geistige Macht des Papsttums zu
brechen; eine Folge davon war der Dreißigjährige Krieg, der Deutsch-
land politisch derartig schwächte, daß es nicht nur in die Abhängigkeit
einer rücksichtslosen Feudalität kam, sondern auch lange Zeit gebrauchte,
um wieder auf festen Füßen zu stehen. Man kann es wohl verstehen,
daß die Franzosen in ihrer maßlosen Eitelkeit und Selbstüberhebung
sich diesen ihnen sympathischen Status als einen dauernden zu sichern
versuchten.
Als nun Deutschland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts anfing, sich aus wirtschaftlichen, politischen und kulturellen
Gründen unter Preußens Vorantritt zu einer möglichst homogenen
Nation auszuwachsen, da wurden die französischen Kreise bedenklich ge-
stört, und die grande Nation hielt es 1870 für die höchste Zeit, der
deutschen politischen und mit ihr wirtschaftlichen Entwicklung einen
Riegel vorzuschieben. Deshalb wurde der Krieg 1870/71 vom Zaune
gebrochen. Der Erfolg war aber ein anderer als die Franzosen ihn in
ihrer Verblendung vorausgesehen hatten, denn nach völliger Besiegung
wurden sie gezwungen, nicht nur die früher geraubten Provinzen Elsaß-