Full text: Sozialdemokratie, Christentum, Materialismus und der Krieg.

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Entsprechend der Gesinnung, die sie für die Bewertung der eigenen 
Menschenwürde an den Tag legen, ist diejenige, die sie den Angehörigen 
anderer Nationen gegenüber dokumentieren. Eine Nation, die in der 
Jetztzeit noch die Unglücklichen und Verirrten der ganzen Welt ver- 
führt und sie in ihrer Fremdenlegion als Kolonialopfer sammelt, ver- 
dient dafür dieselbe Verachtung als für die militärische Verwendung 
der mehr oder weniger verwilderten Angehörigen ihrer Kolonien gegen 
unsere deutschen Angehörigen. Aber schließlich ist die Bestialität dieser 
Wilden noch harmlos gegenüber derjenigen, die die aus ihren eigenen 
Elementen gebildeten Nettoyeurs an den Tag legen mußten. Rechnet 
man hierzu noch die traurige Erscheinung, daß die Franzosen im letzten 
Krieg ihre Wut und ihren Haß auch an hilflosen Gefangenen aus- 
gelassen haben, so wird die Überzeugung doch wohl dauernd bleiben, 
daß ein Verkehr von unserer Seite mit ihnen schon aus Gründen der 
Reinlichkeit auf das Allernotwendigste zu beschränken ist. 
Die Bedeutung Frankreichs für die Kulturentwicklung im Aus- 
gang des Mittelalters und noch mehr die Selbstbeweihräucherung unter 
der Herrschaft der Phrase mußte die Franzosen notwendig zu einer 
politischen Selbstüberhebung führen, die um so schroffer wirkte, je mehr 
das kulturelle Frankreich von anderen Nationen überholt wurde. Die 
kontinentale Bedeutung Frankreichs hat überhaupt bereits seit der Zeit 
des vierzehnten Ludwig an der politischen Zerrissenheit und Bedeu- 
tungslosigkeit Deutschlands gelegen. Die Deutschen, denen die Gründ- 
lichkeit, Konsequenz und Treue oft mit der Vernunft durchgehen, hatten 
die historische Bestimmung, die geistige Macht des Papsttums zu 
brechen; eine Folge davon war der Dreißigjährige Krieg, der Deutsch- 
land politisch derartig schwächte, daß es nicht nur in die Abhängigkeit 
einer rücksichtslosen Feudalität kam, sondern auch lange Zeit gebrauchte, 
um wieder auf festen Füßen zu stehen. Man kann es wohl verstehen, 
daß die Franzosen in ihrer maßlosen Eitelkeit und Selbstüberhebung 
sich diesen ihnen sympathischen Status als einen dauernden zu sichern 
versuchten. 
Als nun Deutschland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr- 
hunderts anfing, sich aus wirtschaftlichen, politischen und kulturellen 
Gründen unter Preußens Vorantritt zu einer möglichst homogenen 
Nation auszuwachsen, da wurden die französischen Kreise bedenklich ge- 
stört, und die grande Nation hielt es 1870 für die höchste Zeit, der 
deutschen politischen und mit ihr wirtschaftlichen Entwicklung einen 
Riegel vorzuschieben. Deshalb wurde der Krieg 1870/71 vom Zaune 
gebrochen. Der Erfolg war aber ein anderer als die Franzosen ihn in 
ihrer Verblendung vorausgesehen hatten, denn nach völliger Besiegung 
wurden sie gezwungen, nicht nur die früher geraubten Provinzen Elsaß-