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Das Britische Reich ist bei dieser Entwicklung, wie schon bemerkt.
kein Staatswesen geworden, wie es die kontinentalen Länder zeigen-
In letzteren sind gewissermaßen die Angehörigen des Staates wegen da
und derselbe trägt die Verantwortung für das gegenwärtige und zu-
künftige Wohl und Wehe der Staatsbürger. Gemildert wird dieses
allerdings gegenwärtig dadurch, daß das Volk durch die kommunale
Selbstverwaltung und durch die legislative Mitwirkung zur Kontrolle
und zur Verantwortung mit herangezogen wird. In England ist
umgekehrt der Staat der Angehörigen wegen da und wird als deren
Interessenvertretung nicht vom Volke, sondern von einer herrschenden
Majorität dirigiert. Er hat nur den Zweck, dem Staatsbürger die
bürgerliche, wirtschaftliche und politische Freiheit zu sichern und die
Entfaltung der englischen Geschäftstüchtigkeit zu ermöglichen. Beein-
trächtigt wird dieses nur durch die beengenden starren Formen der
gesellschaftlichen Überlieferung.
Eine rein parlamentarische Regierung, die in Wirklichkeit die
politische Macht des besitzenden Bürgertums repräsentiert, hat England
erst unter den Königen aus dem Hause Hannover bekommen,
unter denen das Königtum trotz der entgegengesetzten Anstrengungen
Georgs III. schließlich zu politischer Bedeutungslosigkeit vermindert
wurde. Wenn England aber trotzdem die Monarchie wie auch den
hohen Adel beibehielt und überhaupt schwer zu bewegen war, an über-
kommenen Außerlichkeiten zu ändern, so lag der Grund darin, die
Klassengliederung nicht anzutasten. Dem Bürgertum genügte es, das
Geld und die Macht tatsächlich in den Händen zu haben; sie konnten
sich deshalb die Bescheidenheit nach oben ganz gut leisten, zumal den
unteren Klassen damit ein gutes Beispiel gegeben war. Eine gesell-
schaftliche Oberschicht brauchte England aber, denn es lag dem reichen
Emporkömmling nicht nur daran, Geld zu verdienen, sondern dieses
auch mit den Gewohnheiten eines vornehmen Menschen auszugeben.
Die politische und mit ihr wirtschaftliche Entwicklung Englands
zu seiner Macht und seinem Reichtum hat das Geldverdienen in den
Vordergrund aller staatlichen und persönlichen Interessen gestellt und
diesem sowohl die Erziehung als auch „Denkweise angepaßt. Der Er-
folg ist, daß in diesem Lande, das in seiner Blütezeit neben hervor-
ragenden Staatsmännern auf allen Gebieten der Wissenschaft, sowohl
Philosophie als auch Nationalökonomie und Naturwissenschaft, sowie
auch Malerei und Literatur eine Menge genialer Köpfe hervorgebracht
hat, heute der Nachwuchs, wie Kenner versichern, einer geistigen Ver-
flachung und Oberflächlichkeit entgegengeht. Tatsache ist, daß die
Engländer auf den Gebieten der angewandten Wissenschaft, wo es auf
Organisation, Gründlichkeit und Wissen ankommt, uns gegenüber be-