II. Der Krieg und das Christentum.
Die vorchristliche Zeit.
Wie ich bereits im ersten Abschnitt bemerkt habe, hat durch den
Krieg das religiöse Leben sicher etwas Vertiefung erfahren, von der
das Christentum beider Konfessionen naturgemäß am meisten gewinnen
mußte, da es sich in der Hauptsache um ihre mehr oder weniger ernst-
haften Bekenner handelte. Es ist dieses um so bemerkenswerter, als
das Christentum in theoretischer Beziehung durch den letzten Krieg
dieselbe Widerlegung und Erledigung gefunden hat, wie durch alle vor-
hergegangenen Kriege der christlichen Staaten. Das Christentum hat
seine Bedeutung aber nicht durch seine Lehrsätze und Theorien erlangt,
obwohl diese mit ebenso großer Naivität als Anmaßung zu ewigen
Wahrheiten gestempelt sind, sondern durch seine Entwicklung, und diese
ist derjenigen der Menschen und Staaten entsprechend mehr politischer
als kultureller Natur gewesen. Um dem Christentum in seiner Be-
deutung gerecht zu werden, muß es daher sowohl in seiner philosophi-
schen als auch politischen Entwicklung betrachtet werden.
Es ist charakteristisch für das Christentum, daß sich das Wesen
desselben ganz um die Persönlichkeit und um das Erleben ihres Stifters
gruppiert und daß beides historisch ebensowenig feststeht, wie es sich
heute in der überlieferten Form wissenschaftlich rechtfertigen läßt. Die
Frage hat sich sogar schon soweit zugespitzt, daß es heißt: Hat überhaupt
ein Jesus gelebt? Ganz abgesehen davon, wie sie beantwortet ist, ist
es schon bezeichnend für die historische Treue des Christentums, daß
eine solche Frage überhaupt gestellt werden kann.
Tatsache ist, daß das Christentum aus dem Judentum zu einer
Zeit herausgewachsen ist, als letzteres als nationale Selbständigkeit kurz
vor dem Untergang stand. Es müssen also in jener Zeit im Judentum
treibende Kräfte philosophischer und politischer Natur tätig gewesen
sein, die in der Religion des Judentums, soweit man von ihrem Natio-
nalgefühl als solcher überhaupt sprechen kann, wurzelten und zu unhalt-
baren Zuständen geführt haben.
Moses, dem die Juden ihre Religion und ihre Entstehungsge-
schichte zu verdanken haben, hat als Grundlage dieser sehr geschickt die
Schöpfungssagen älterer Kulturvölker benutzt und für das Judentum