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träge und Übereinkommen geregelt war. Ihr Jehova war ein Gott
des Verstandes, der zwar gerecht aber strenge war. Jesus hat diesen
zu einem Gott des Gemüts gemacht, der als Vater ein Gott der Liebe
und Versöhnung sein mußte. Hiernach waren die Menschen Gottes
Kinder und unter einander Brüder und Schwestern. Als solche mußte
ihr Zusammenleben ebenfalls ein solches der Liebe und Versöhnung sein.
Jesus hat mit dieser Lehre aber auch die nationalen Schranken
des Judentums durchbrochen und den nationalen Gott der Juden zu
einem Vater aller Menschen gemacht, für den es keine Auserwählte der
Geburt und der Nation nach geben konnte, sondern nur solche des
Glaubens und der guten Werke. Es ist verständlich, daß er sich mit
solcher revolutionären Lehre den unversöhnlichen Haß der streng-
gläubigen Juden zuziehen mußte, da bei diesen die Religion überhaupt
in erster Linie den Zweck hatte, die nationale Zusammengehörigkeit zu
heiligen und zu festigen. Für kosmopolitische Bestrebungen konnten
sie deshalb nichts übrig haben und solche mußten ihnen gleichbedeutend
mit Frreligiositär sein. Die Lehrtätigkeit Jesu hat denn auch bald ein
Ende dadurch gefunden, daß ihn die Juden mit Hilfe der römischen
Gerichtsbarkeit ans Kreuz geschlagen haben. Immerhin hatte die Zeit
aber genügt, daß die Lehre in einem, wenn auch eng begrenzten Teile
der jüdischen Bevölkerung derart tief Wurzel fassen konnte, daß sie
nicht mehr auszurotten war.
Durch den Tod Christi insbesondere in Verbindung mit der
legendenhaften Auferstehung hatte seine Lehre überhaupt erst die rich-
tige Werbekraft bekommen, denn dieser hatte dadurch, daß er sich für
seine Idee hatte kreuzigen lassen, ein leuchtendes Beispiel gegeben, die
Nächstenliebe, d. h. die Liebe zur Gattung über die Eigenliebe zu stel-
len und dieses Beispiel mußte als Geschenk an die leidende Menschheit
um so gewaltiger wirken, als Jesus nach dem Glauben der ersten
Christen es in der Hand hatte, sich mit Hilfe von mehr denn zwölf
Millionen Engel ein irdisches Messiasreich zu verschaffen. Jesus hat
sich aber für die sündige Menschheit geopfert und den Tod am Kreuze
einem genußreichen irdischen Dasein vorgezogen; er hat dadurch der
Menschheit ein erhabenes Beispiel von Selbstlosigkeit gegeben, das
nicht mehr übertroffen werden konnte, und das in seiner Folgerung
mit der Lehre vom jenseitigen ewigen Leben und den dazu gehörigen
Seelen den mit irdischen Gütern nicht Gesegneten eine gewisse tröstende
und ausgleichende Messias-Verheißung bilden konnte. Da Christus
auch der erste war, der den Juden eine solche Lehre und Erkenntnis als
Trost und Evangelium verkündete, da er auch selbst danach lebte und
dafür litt und starb, so konnte er sich ohne besondere Anmaßung
wohl für einen bevorzugten Gottessohn ansehen, den die Überlieferung
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