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mit erdichteten Wundertaten und dem Wunder der Auferstehung dann
bald zu einem menschgewordenen Gott erhöht hat.
Jedenfalls ist das Christentum aus der jüdischen Theologie
herausgewachsen und in dieser zuerst wurzelfest geworden; es hat aber
keineswegs dieser seine weltumspannende Bedeutung zu verdanken.
Nur dadurch, daß es von hier aus Wurzel in dem durch die griechische
Philosophie aufgeweichten Boden des römischen Imperiums gefaßt
hat und hier mit der Zeit ein brauchbares Requisit der Politik wurde,
konnte es eine universelle Verbreitung finden. Das heißt aber auch,
das Christentum hat seine Bedeutung und seine Verbreitung in erster
Linie nicht einem innern ethischen Gehalt, einer moralischen Durch-
dringungskraft und einer Veredelungsfähigkeit zu verdanken, sondern
weit mehr einer weltbürgerlichen Anpassungsfähigkeit, mit der die
römische Eroberungssucht die unterjochten Völker beruhigen und zur
Entsagung erziehen konnte. Mit Hilfe seiner inneren Gestaltungskraft
hötte es in jener Zeit die Sektenbildung innerhalb einer engbegrenzten
orientalischen Bevölkerung nicht überschreiten können.
Da bereits in der Zeit der ersten Christen über den geschichtlichen
Jefus nichts Bestimmtes festgelegt wurde, und da keine beglaubigte
Auskunft von Augenzeugen schriftlich verzeichnet ist, so dürfte der Ver-
dacht nicht unbegründet sein, daß sein Leben und Wirken absichtlich in
ein mystisches Dunkel gehüllt wurde. Selbst der Apostel Paulus, der
doch unmittelbar nach dem Tode Jesu die Verbreitung seiner Lehre
mit viel Erfolg in die Hand genommen hatte, hat sich über den ge-
schichtlichen Jefus nicht geäußert. Das Dunkel, das absichtlich den
geschichtlichen Jesus der Nachwelt unerkennbar machen sollte, konnte
aber nur den Zweck haben, der Mythenbildung und der philosophischen
Spekulation Spielraum zu verschaffen. Beides hat dann auch un-
mittelbar nach Christi Tode in ebenso kühner als auch urteilsloser
Weise eingesetzt.
Wenn das Christentum sich im Anfang auch strahlenförmig nach
allen Richtungen ausbreitete, so hat es sich doch hierbei mehr oder
weniger nur um vereinzelte kleine Gemeinden gehandelt, die sich aus
Elementen der in irgend einer Beziehung unterdrückten Bevölkerungs-
kreise zusammensetzten. Auch in Rom, woselbst das Christentum den
Boden gefunden hat, von dem aus es den für die Kultur wichtigsten
Teil der Welt erobern sollte, sind es meist die Unterdrückten und
Elenden der eroberten Völker gewesen, die hellhörig wurden bei der
Verkündigung eines Evangeliums, nach dem die Armen im Himmel
für ihre irdischen Leiden ein Vorrecht haben, sofern sie Anhänger des
neuen Glaubens werden. Dieser neue Glaube lehrte ganz entgegengesetzt
den früheren Lehren und Gewohnheiten, daß man seine Feinde lieben