114 Aus den Jahren 1850 bis 1866
Reichstages, und unsere gegenwärtige Kleinstaaterei wird sich immer noch
großstaatlich genug ausnehmen, wenn man sie mit dem buntgeflickten Kleide
der Karte des Deutschen Reiches zur Zeit des Friedens von Lunéville vergleicht.
Wenn dessenungeachtet auch die anerkennenswerten Seiten unfrer
Bundesverfassung wenig gewürdigt werden und der Wunsch nach Reform
derselben sich mit immer größerer Entschiedenheit kundgibt, so liegt dieser
Erscheinung unter vielen bekannten Ursachen eine zugrunde, die vielleicht
noch nicht genügend hervorgehoben wurde. Es ist eine bekannte Tatsache,
daß in keinem Teile von Deutschland „die deutsche Einheit“ eine größere
Popularität genießt als in den südwestdeutschen Staaten. Während Oester-
reich und Preußen die Frage der Verbesserung der Bundesverfassung nur
nebenbei anerkennen oder als Mittel, sei es zur Aufrechterhaltung ihres
Einflusses in Deutschland, sei es zur eignen Vergrößerung benutzen, wird
im südwestlichen Deutschland die Frage der Reform der Bundesverfassung
als eine Lebensfrage betrachtet und bildet fortwährend den Gegenstand
ängstlichen Nachdenkens für den Politiker und spannender Aufregung für
die Massen. -
Kein vernünftiger Mensch wird den Grund dieser Erscheinung in dema-
gogischen Umtrieben suchen wollen. Bewegungen solcher Art lassen sich
nicht künstlich erzeugen, sie wurzeln tiefer. Wir glauben, daß dieser tiefere
Grund in der mehr oder weniger bewußten Ueberzeugung beruht, daß ein
großer Teil der deutschen Nation von der Bestimmung der Geschicke Deutsch-
lands ausgeschlossen ist, weil diese Geschicke in ihren Beziehungen zu den
übrigen Nationen durch Oesterreich und Preußen mit Ausschluß der übrigen
16 Millionen Deutscher bestimmt und geleitet werden. Dieses Gefühl der
Ausgeschlossenheit ist um so bitterer und schwerer zu tragen, als gerade
im südwestlichen Deutschland der eigentliche Kern des germanischen Stammes
liegt und sich rein erhalten hat, während in Oesterreich und Preußen das
deutsche Element vielfach mit slawischen Elementen gemischt erscheint. Hier,
im Südwesten von Deutschland, ist die Wiege unfrer größten Fürsten-
geschlechter. Aus diesem Teile von Deutschland sind vorzugsweise die
Männer hervorgegangen, die auf die ganze geistige Entwicklung der Nation
den entschiedensten Einfluß geübt haben; ja noch bis auf die neueste Zeit
waren selbst in Oesterreich und Preußen die hervorragendsten Staats-
männer von süddeutschem Stamme. Dieses bittere Gefühl ist um so schmerz-
licher, je mehr diese Volksstämme sich ihrer geistigen und materiellen Ueber-
legenheit bewußt werden und dennoch ihre politische Tätigkeit auf mehr
oder weniger lokale Interessen beschränkt sehen.
Wenn es aber unbestreitbar feststeht, daß zur politischen Ausbildung
und Kräftigung eines Volkes die Teilnahme an den Interessen der Mensch-
heit, an dem, was man gewöhnlich große Politik nennt, unumgänglich nötig