Aus den Jahren 1850 bis 1866 155
München, 31. Mai 1866.
Gestern Abend angekommen. Die Adresse ist gestern Morgen beraten
worden. Arco-Valley, den ich auf dem Bahnhof fand, erzählte mir, daß
Zu Rhein eine gegen Preußen gerichtete Verschärfung der Adresse begut-
achtet und in längerer Rede befürwortet, Wilhelm Löwenstein eine Milderung
im preußischen Interesse beantragt habe. Die Kammer nahm aber das
Projekt von Harleß als genügend scharf und würdig an. Ich glaube,
Stauffenberg hat die Sitzung, wenn auch nicht absichtlich, doch nicht ohne
innere Befriedigung unmittelbar vor meiner Ankunft angesetzt. Er wollte
mir die Gelegenheit nehmen, ein politisches Glaubensbekenntnis abzulegen.
Vielleicht hatte er aber auch nur den Plan, so bald wie möglich wieder
acht Tage Ferien zu machen, um heute abreisen zu können.
Die Stimmung ist hier gegen Preußen. Die Sympathien für Preußen,
die in der Armee geherrscht haben, sind verschwunden, wie man sagt. Ich
ging gestern lange mit Bodenstedt auf dem Dultplatz auf und ab, der
insbesondre für Volksbewaffnung sprach, natürlich neben den stehenden
Heeren. Es sei nun einmal ein Schlagwort der Demokratie, und wenn
die Leute sich diese Kosten und Unannehmlichkeiten machen wollten, so solle
man sie damit beglücken. Revolution werde dadurch nicht entstehen.
Der König hat sich unter den Münchner Bürgern durch seine Reise
nach der Schweiztj#) sehr geschadet. Man soll ihm öffentlich auf der Straße
Schimpfworte nachgerufen haben; bei der Fahrt nach der Kirche am
Eröffnungstag des Landtags ist er vom Publikum nicht behurrat worden,
und man hat ihn kaum gegrüßt. Nun hat er den Polizeidirektor Pfeufer, ?)
wie man sagt, deshalb nach Augsburg als Regierungsdirektor versetzt
(als wenn die Polizei die Stimmung machen könnte), und Fritz Luxburg s)
zum Polizeidirektor ernannt, der darüber unglücklich ist und sich noch nicht
entschieden hat, ob er annehmen soll.
Pfordten erklärt wiederholt, daß er die Wirtschaft satt habe, bleibt
aber doch und wird wahrscheinlich als Bundesbevollmächtigter zu den
Konferenzen gehen. Ich begreife nicht recht, wie dies mit dem Landtag
zusammenpassen wird, da dann kein Minister da ist, der die Vorlagen
der Regierung vertreten kann.
Man erzählt, der König habe die Kammern nicht persönlich eröffnen
wollen, da seien denn der alte König Ludwig und der Prinz Karl nach
1) Die Reise nach der Schweiz, wo der König den Schauplatz des „Tell“ be-
suchte, wurde irrtümlich von der öffentlichen Meinung als eine Begegnung mit
Richard Wagner ausgelegt.
2) Später Minister des Innern.
*) Graf Luxburg, 1871 Präfekt in Straßburg, dann Regierungspräsident in
Würzburg.