Full text: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst. Erster Band. (1)

72 Aus den Jahren 1850 bis 1866 
darzustellen. Ja, die moderne naturwissenschaftliche Schule erklärt auch 
der Transzendenz den Krieg und verweist das Transzendentale in das 
Gebiet des Glaubens. 
Damit sind wir auf einer gefährlichen Stufe angelangt. 
Schon jetzt zeigt es sich, daß die wissenschaftlich gebildeten Menschen 
entweder keinen Glauben haben oder sich der Kirche ohne Ueberzeugung 
anschließen und unterordnen, soweit ihr Gebiet reicht. Ist aber letzteres 
mit dem ersteren nicht gleichbedeutend? Ist nicht der Glaube desjenigen, 
welcher sich, ohne innerlich davon durchdrungen zu sein, den kirchlichen 
Satzungen unterwirft, d. h. nach den Vorschriften der Kirche handelt, 
ohne daran zu denken, diese Satzungen für Wahrheit zu halten, ist ein 
solcher Glaube dann etwas andres als Pharisäismus? Wohl weiß 
ich, daß sehr wohldenkende, tieffühlende Menschen diesem sogenannten 
Pharisäismus huldigen. Wird aber eine solche mehr konventionelle Höf- 
lichkeit gegen die Kirche von Dauer sein? Werden nicht die Resultate 
dieser glaubenslosen Wissenschaft sich auch in jene Klassen verbreiten, die 
gar kein Interesse daran haben, sich der Kirche und ihren Lehren, den von 
ihr auferlegten Prüfungen und Entbehrungen unterzuordnen? Wird nicht 
am Ende die Zersetzung um sich greifen, oder hat sie nicht vielmehr schon 
begonnen, sich in die unteren Schichten der Gesellschaft auszubreiten? 
Noch leben die meisten in der süßen Täuschung der Transzendenz, die 
Wirkungen des Fortschritts in den Naturwissenschaften, wie er sich in der 
modernen Schule ausgebildet hat, sind bis jetzt nur fühlbar in der wissen- 
schaftlich gebildeten Welt; wird es aber dabei bleiben? Und wenn sich 
nun diese Resultate weiter verbreiten, so gehen wir einer Glaubenslosigkeit 
entgegen, die unfehlbar zur Auflösung unfrer ganzen modernen Zioili- 
sation führen wird. Darum die Fortschritte der Naturwissenschaften beklagen 
zu wollen, wäre kindisch. Denn alles ist zweckmäßig, notwendig und gut, 
weil es ist, d. h. weil es sich in der Entwicklung der Menschheit so 
herausgebildet hat. Allein nötig ist, sich nicht die Augen zu verschließen. 
„Man soll die menschlichen Dinge nicht beweinen, nicht belachen, man soll 
sie zu verstehen trachten.“ 
Aus derselben Zeit stammt anscheinend die nachfolgende 
Aufzeichnung ohne Datum. 
Wir sehen in neuester Zeit mehr und mehr die Ueberzeugung vor- 
herrschen, daß Wissen und Glauben vollständig voneinander getrennt 
bleiben müssen. Insofern nun im Protestantismus eine Vereinigung von 
Wissenschaft und Dogma angestrebt wurde, hat dieser infolge der Aus- 
breitung jener Ueberzeugung an Boden verloren. Der wissenschaftlich ge- 
bildete Mann, dem die Vernunft die Notwendigkeit der Religion und
	        
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