Full text: Rechtslexikon. Erster Band. Aagesen - Fungible Sachen. (2.1)

Armengesetzgebung. 149 
kommissionen in den Städten, die Landräthe, Ortsvorsteher und Gutsobrigkeiten 
auf dem platten Lande. Soweit es das Personal der Verwaltung betrifft, bieten 
selbst unsere großen Städte das in Europa selten werdende Schauspiel einer per- 
sönlichen Mitarbeit der Gemeindegenossen an den mühevollsten Funktionen der 
Einzelverwaltung dar. Es wird darauf ankommen, das platte Land zu größeren 
lebensfähigen Verbänden (in denen dann auch der Gegensatz von Landgemeinde und 
Gutsbezirk von selbst aufgeht) zu gestalten, was freilich ohne ein System direkter 
Kommunalsteuern unausführbar bleibt. Die Vorbedingung eines verwaltungs- 
fähigen Personals dagegen ist in dem größeren Theil Deutschlands unzweifelhaft 
noch vorhanden. 
Die Schwierigkeit der A. liegt in den tiefgreifenden Verschiedenheiten der 
darin zu behandelnden Subjekte. Die Erhaltung der Erw erbsunfähigen er- 
scheint zunächst als Rechtsfrage und Frage der kommunalen Lastenvertheilung; die 
Behandlung der Arbeitsunwilligen zunächst als Polizeifrage; die Behandlung 
zufälliger und lokaler Erwerbsunfähigkeiten zugleich als Frage der 
Kommunal= wie der Staatswirthschaft. Die reichste Erfahrung der Gesetzgebung 
zeigt, daß nur das systematische Jueinandergreifen von Armenpolizei und 
Armenpflege heilsame Zustände zu schaffen vermag. Kein Theil der öffentlichen 
Verwaltung bedarf in dem Maße der Individualifsirung. Das Aufgehen 
der Armenpflege in ein Buchhaltungssystem von Geldunterstützungen muß einem 
System von Arbeitsnachweisung, Beschäftigung bei öffentlichen Arbeiten resp. in 
Arbeitshäusern, Hausbeschäftigung, Naturalunterstützungen, unter strenger Scheidung 
von Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit, Platz machen. Kein anderer Zweig 
der Verwaltung bedarf also in gleichem Maße der Dezentralisation und der 
Betheiligung des bürgerlichen Elements (einschließlich der Ortsgeistlichkeit) mit seiner 
genauen Kenntniß der lokalen und individuellen Verhältnisse. Andererfeits bedarf 
dieselbe Verwaltung der strengsten Normativbedingungen, soweit dabei eine 
Kollision der Interessen obwaltet, vor Allem einer gesetzlichen Regelung der Armen- 
last, die mit dem fortschreitenden System der Geldwirthschaft unvermeidlich zur 
direkten Steuer werden muß. Sobald dieser Steuerfuß ein gleicher geworden, die 
Urbezirke der Armenlast dem System der Freizügigkeit entsprechend nicht allzu klein 
gestaltet sind, sobald der größere Verband den kleineren zu ergänzen hat, wenn 
dessen Armenlast einen gewissen Prozentsatz überschreitet, läßt sich eine Dezentrali- 
sation der Armenlast festhalten, in welcher alle Betheiligten ein lebendiges Interesse 
an der sparsamen Verwaltung behalten, ohne das Bestreben einer gegenseitigen 
Abwälzung, welches die schwersten Mißbräuche der Armenverwaltung erzeugt hat. 
Die neuesten Verwaltungsgrundsätze Englands bieten für diese Frage der konzentri- 
schen Vertheilung der Armenlast ein beachtenswerthes Muster, welches freilich zum 
guten Muster nur wird unter der Voraussetzung perfönlicher Mitarbeit der Ge- 
meindekommissionen, nicht aber mit der jetzt vorhandenen Schreiberwirthschaft. 
Die nächste Aufgabe des Deutschen Reiches konnte nur die Generalisirung 
der Preuß. Gesetzgebung über das Niederlassungsrecht sein, welche als ein ent- 
wickeltes Freizügigkeitsrecht dem Durchschnitt der kleinstaatlichen Gesetzgebung voran- 
geeilt ist. Das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 
hat an die Stelle des namentlich in den Süddeutschen Staaten noch vorherrschen- 
den „Heimathsrechts“, welches durch die ausdrückliche Aufnahme in den Gemeinde- 
verband begründet wurde, die dem System der Freizügigkeit entsprechende Unter- 
stützungspflicht nach dem Wohnsitz gesetzt, welche durch einen zweijährigen un- 
unterbrochenen Aufenthalt begründet wird, und welche in dem Bundesamt für das 
Heimathwesen ein Centralorgan der Verwaltungsrechtspflege gefunden hat. 
Aus der Praxis einer öffentlichen, verantwortlichen Selbstverwaltung bilden 
sich auch die richtigen Grundsätze für eine angemessene Organisation der Privat- 
wohlthätigkeit. Es ist wahr, daß die amtliche und private Wohlthätigkeit
	        
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