Prostitution. 199
in England gar keine gesetzliche Vorschrift bezüglich der P., und die Polizei hatte
kein Recht, hindernd einzuschreiten, außer wenn öffentliches Aergerniß gegeben oder
Belästigungen auf der Straße stattfanden und darüber von zwei Steuerzahlern in
aller Form Klage erhoben wurde. Auch von einer obligatorischen ärztlichen Unter-
suchung war nirgends die Rede. In Folge dieser Verwahrlosung breitete sich die
Syphilis in solchem Maße aus, daß z. B. von den Rekruten durchschnittlich 20
bis 25 Prozent infizirt befunden wurden und der Präsenzstand des stehenden Heeres
einen beständigen Abzug von 15 bis 20 Prozent syphilitisch Erkrankter aufwies.
Diese Zustände drängten so schreiend nach Abhülfe, daß, ungeachtet des heftigen
Widerstandes der strengkirchlichen Parteien, welche darin eine gewerbliche Konzession
an das Laster erblickten, im Jahre 1864 bzw. 1866 eine sanitätspolizeiliche Beauf-
sichtigung der Prostituirten — vorläufig nur in einer bestimmten Anzahl von
Hafen= und Garnisonstädten — gesetzlich eingeführt wurde. Dieser Dienstzweig ist
dem Kriegsministerium unterstellt, welches über die Ergebnisse regelmäßige Berichte
dem Parlamente vorlegt. Die Ausdehnung der bereits als höchst wohlthätig statistisch
erwiesenen Einrichtung über sämmtliche Städte des Landes, namentlich über London
mit seinen 4000 Bordellen und 60 000 Lustdirnen, wird von vielen, besonders ärzt-
lichen Seiten dringend verlangt, während von einer sehr rührigen Gegenpartei unter
Berufung auf die verletzte persönliche Freiheit und auf das verletzte öffentliche Scham-
gefühl die Wiederabschaffung der Gesetze verlangt wird.
So wiederholt sich denn in der Geschichte aller Staaten die Erscheinung der
P. als eines von den menschlichen Konglomerationen unabwischbaren Schmutzfleckens,
und wenn Parent-Duchatelet in seinem klassischen Buche über die P. in Frank-
reich sagte, die Prostituirten seien in den größeren Städten ebenso unvermeidlich wie
Abzugskanäle, Abdeckereien und Schmutzbehälter, so hat er damit die erfahrungs-
gemäße absolute Unmöglichkeit einer Unterdrückung ebenso richtig wie die ethische
Häßlichkeit des Uebels bezeichnet. Für die tiefe Begründung der P. in den Funda-
menten unserer sozialen Zustände spricht auch die statistische Regelmäßigkeit
ihres Intensitätsganges überall da, wo die Größe der bezüglichen Ziffern überhaupt
eine statistische Betrachtung zulässig macht. Vergleicht man z. B. die Jahressummen
der polizeilichen Einregistrirungen von Prostituirten in Paris während eines zwölf-
jährigen Zeitraumes nach v. Oettingen's Tabellen, so ergiebt sich eine mit ge-
ringen Schwankungen regelmäßig fortschreitende Zunahme von 46 504 Einregistrirungen
im Jahre 1837 bis zu 50 015 im Jahre 1849. Auch die monatliche Zahl der Ein-
registrirungen zeigt nur sehr geringe Schwankungen, und selbst in diesen Schwankungen
tritt eine regelmäßige Schwellung für die Herbstmonate gegen einen ebenso regel-
mäßigen Rückgang für die Wintermonate hervor. Bei solcher Regelmäßigkeit der
Zahlen kann kein Zweifel bleiben, daß — so verschieden auch die individuellen Motive
des Schrittes bei den Tausenden sich gestalten mögen, doch allgemeinere und tiefere
Einflüsse, mit deren Gesammtbezeichnung als „soziales Elend“ man sich zu begnügen
pflegt, hier so bestimmt ihre unvermeidlichen Endsprossen treiben wie in der Trunk-
sucht, im Selbstmorde, im Irrsinn, im Verbrechen. Mit allen diesen Schwester-
phänomenen und besonders mit dem berufsmäßigen Gaunerthum erscheint ja auch die
P. erfahrungsgemäß in innigem Bunde, und sehr richtig bezeichnet ein geistreicher
Französischer Kriminalstatistiker (Corne) die P. als das weibliche Aequivalent für
die bekanntlich fünf bis sechs Mal größere Kriminalität bei den Männern. Die
auffällige Zunahme der P. in unseren großen Städten seit den letzten Dezennien,
z. B. in Berlin und in Paris, um das Dreifache desjenigen Prozentsatzes, welcher
der Bevölkerungszunahme entsprechen würde, geht gleichen Schrittes mit der Zunahme
der Selbstmorde und des Irreseins, sowie mit der Abnahme der Ehen, — statistische
Beziehungen von bedeutsamer Tragweite für die volkswirthschaftliche Betrachtung.
Der Rechtsstaat als solcher hat gegenüber dem uns hier beschäftigenden sozialen
Uebel zwei verschiedenartige Interessen zu vertreten: den Schutz der öffentlichen