Full text: Rechtslexikon. Dritter Band. Erste Hälfte. Pachmann - Stöckhardt. (2.3.1)

Rechtsvermuthungen. 303 
Begriffe der Fiktion für Manche der Beweggrund geworden, die praesumtio juris et. 
de jure ganz aus der juristischen Terminologie zu streichen. Auch verfahren hierin 
diejenigen ganz konsequent, die zugleich den Fiktionen jeden Werth für die juristische 
Wissenschaft absprechen; denn der Werth der praesumtio juris et de jure ist in der 
That kein anderer, als der der Fiktionen, mit denen sie die Art der Wirkung 
völlig gemein hat. Für Jeden dagegen, der den Fiktionen — unter gewissen Voraus- 
setzungen (s. d. Art. Fiktionen) — einen relativen wissenschaftlichen Werth zu- 
erkennt, muß auch der Begriff der praesumtio juris et de jure einen Werth gleich 
dem der Fiktionen behalten. Das will sagen: auch die praesumtio juris et de jure 
bildet, sofern sie in rechter Weise — zur Vereinfachung der Auffassung oder Dar- 
stellung des Rechts und zumal für Fälle, wo ohnehin eine faktische Vermuthung, 
nahe liegen würde — gebraucht wird, ein nicht zu unterschätzendes logisches und 
didaktisches Hülfsmittel, sowol für die Systematik, als für die juristische Praxis. 
Und genau wie bei den Fiktionen wiederholt sich auch bei der praesumtio juris et. 
de jure die Erscheinung, daß ihre Beseitigung, wo die Präsumtion berechtigt ist, 
nur unter unbewußter Zuhülfenahme anderer Präsumtionen zu erfolgen pflegt. Man 
denke z. B. an die bekannten Präsumtionen eines Verzichts in Fällen, wo eine 
Präklusivfrist nicht eingehalten wird. Wenn man eine solche Präsumtion durch die 
Rechtsregel ersetzen will: wer die betreffende Frist nicht einhält, soll sein Recht 
verlieren, — so läßt sich dies allerdings hören, wo der Verzicht — überhaupt auf das 
betreffende Recht — unzulässig, resp. rechtlich unwirksam ist. Wenn dagegen der Ver- 
zicht zulässig, und namentlich schon vor Ablauf der Frist in wirksamer Weise 
möglich ist, bedingt die Aufstellung jenes anderen Verlustmodus einerseits eine un- 
nöthige Vermehrung des juristisch-systematischen Apparats, andererseits die Anwendung 
einer neuen Präsumtion: der Richter wird genöthigt, Fristversäumniß anzu- 
nehmen, wo nicht Verzicht augenscheinlich zu Tage liegt oder um der weitergehenden 
Folgen willen vom Gegner bewiesen wird. 
Uebrigens hat die praesumtio juris et de jure bisweilen noch eine eigenthümlich 
praktische oder ethische Bedeutung; so insbesondere die berühmte kanonisch-rechtliche 
Präsumtion des consensus de praesenti im Falle eines coitus zwischen bisher nur de 
futuro Desponsirten, und die Präsumtion der Verzeihung eines vorausgegangenen Ehe- 
bruchs seitens des unschuldigen Ehegatten auf Grund der trotz Kenntniß davon erneuten 
ehelichen Beiwohnung. Gewiß könnte man auch in diesen beiden Fällen von jeder 
Präsumtion absehen und demgemäß dem consensus de praesenti als regelmäßigem Ent- 
stehungsgrunde der Ehe den exceptionellen des coitus nach vorausgegangenem Ver- 
löbniß de futuro an die Seite stellen, und ebenso der Verzeihung als einen be- 
sonderen anderen Ausschließungsgrund der Ehescheidung, resp. der separatio per- 
petua, die erneute eheliche Beiwohnung, trotz Kenntniß von dem vorausgegangenen 
Ehebruche. Aber sowol für das natürliche sittliche Gefühl, als für die Systematik 
empfiehlt sich zweifellos der Weg, den statt dessen Gesetzgebung und Doktrin bisher 
eingeschlagen. Im Grunde geben dies die Gegner der praesumtio juris et de jure 
selbst zu. Sie meinen freilich, die Sache liege vielmehr so, daß „der Inhalt der 
angeblichen Präsumtionen, als etwas sich von selbst verstehendes, auch von der Masse 
des Volkes lebhaft gefühlt würde, und der bloße Gedanke, daß es hier einer beson- 
deren gesetzlichen Vorschrift bedürfte, schon Indignation zu erregen im Stande wäre“. 
Allein so richtig diese Bemerkung an sich ist, so falsch ist sie als Motivirung der 
Meinung, der Begriff der praesumtio juris et de jure sei auf dieses „sich von selbst 
verstehende“ unanwendbar. In Wahrheit versteht sich dergleichen doch nur im 
cthischen, d. h. in dem Sinne von selbst, daß ein Andershandeln dem allgemeinen 
sittlichen Gefühle Hohn spricht, aber als etwas Thatsächliches versteht sich bekanntlich 
das Sittlichhandeln im Gegensatz zum Unsittlichhandeln nicht von selbst. Wahr an 
jener Bemerkung ist also nur, daß unsere Rechtsanschauung (die hier durchaus 
dem sittlichen Gefühle folgt) die fragliche Annahme als eine unbedingte, auch ohne
	        
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