Reichsgericht. 393
früheren Entscheidung eines anderen Straffenates oder der vereinigten Strafsenate
abweichen will. Für diese Fälle verlangt das Gesetz, daß der Civilsenat oder
der Strafsenat, der eine von der früheren abweichende Entscheidung der Rechtsfrage
treffen will, diejenige Civilsache oder Strafsache, die zu dieser veränderten Rechts-
auffassung Veranlassung giebt, überhaupt gar nicht entscheide, sondern die Entscheidung
dieser Sache selbst — und nicht blos die abstrakt formulirte Rechtsfrage — vor die
vereinigten Civil= resp. vor die vereinigten Straffenate verweise. Das Gesetz erwähnt
dagegen nicht den Fall, daß ein Civilsenat oder ein Straffenat in einer Rechtsfrage
von seiner eigenen früheren Entscheidung abweichen will. Es mag immerhin be-
zweifelt werden können, ob die Intention des Gesetzes dahin gegangen sei, in Fällen
dieser Art eine Aenderung der Rechtsauffassung ohne weiteres statuiren zu wollen.
Denn für die Rechtssicherheit kommt es darauf an, daß das R. als etwas Einheit-
liches gedacht, die Rechtsfragen gleichmäßig entscheide; ob Aenderungen dadurch ent-
stehen, daß der Senat A anders entscheidet als der Senat B entschieden hat, oder
dadurch, daß der Senat A jetzt anders entscheidet, als er früher entschieden hat,
das ist dem Resultate nach für die Rechtsuchenden ganz gleichgültig. Diese suchen
ihr Recht bei dem R. selbst, nicht bei einem Senate desselben. Aber obwol dieses
so ist, wird man doch Bedenken tragen müssen, auch in dem Falle, wenn ein Senat
von seiner eigenen Rechtsauffassung abgehen will, denselben für berechtigt zu erachten,
die Sache an die vereinigten Civil= oder die vereinigten Strafsenate zu verweisen.
Dies würde vielleicht zulässig sein, wenn die vereinigten Senate darauf beschränkt
wären, nur präparatorisch die Rechtsfrage zu entscheiden, während dann der einzelne
Senat die Sache selbst auf Grundlage der präparatorischen Entscheidung der ver-
einigten Senate entschiede. Da aber das GVG. die vereinigten Civil= und Straf-
senate zur Entscheidung in der Sache selbst berufen hat, so dürfen dieselben auch
ihre durch das Gesetz bestimmte Zuständigkeit nicht überschreiten, d. h. sie dürfen
die Entscheidung einer Sache dann nicht übernehmen, wenn ein Senat nur von
seiner eigenen früheren Rechtsanschauung abweichen will.
Das Gesetz, durch welches dem R. sein Sitz in Leipzig angewiesen ist, datirt
vom 11. April 1877. Wenn durch § 1 dieses Gesetzes bestimmt ist, daß auf den-
jenigen Bundesstaat, in dessen Gebiet das R. seinen Sitz hat, § 8 des EG. zum
GVG. keine Anwendung finden solle, so würde diese Vorschrift eine Bedeutung nur
unter der Voraussetzung haben, daß das Königreich Sachsen mehr als ein Ober-
landesgericht einzusetzen sich veranlaßt gesehen hätte. Da nun aber für das König-
reich Sachsen nur ein Oberlandesgericht eingesetzt ist, so hat das R. mit dem bür-
gerlichen Rechte des Staates, in welchem dasselbe seinen Sitz hat, um deswillen
nichts zu thun, weil nunmehr das Sachsische bürgerliche Gesetzbuch vom 2. Januar
1863/1. März 1865 zu denjenigen Gesetzen gehört, deren Verletzung die Revision
in Gemäßheit des § 511 der CPO. ausschließt. Sollte durch das Gesetz vom
11. April 1877 es erreicht werden, daß Sachsen dem R. gegenüber eine andere
Stellung einnehme als Bayern, so hätte noch bestimmt werden müssen, daß der-
jenige Bundesstaat, in dessen Gebiet das R. seinen Sitz hat, mindestens zwei Ober-
landesgerichte einsetzen müsse. Diese Vorschrift ist nun aber nicht getroffen, und so
bleibt § 1 des Gesetzes vom 11. April 1877 so lange eine absolut nichtssagende
Vorschrift, bis es dem Königreich Sachsen genehm sein wird, noch ein zweites Ober-
landesgericht einzusetzen.
Lit.: Vgl. den Artikel Gerichtsverfassung. Speziell über die Vorschrift des § 511:2
John in Behrend's Zeitschr. VII. S. 161 ff. — Planck in den Preuß. Jahrbb. Bd. XXXI.
S. 335. — Wernz in der Zeitschr. für Reichs= und Landesrecht III. S. 379, 380. — Ueber
die Verordnung vom 28. September 1879 vgl. Eccius, Die Revisionsinstanz und das Landes-
recht (Berlin 1880). — An Sammlungen der Entscheidungen des Reichsgerichts sind bis
jetzt vier erschienen: Entscheidungen des Reichsgerichts — herausg. von den Mitgliedern des
Reichsgerichts, Civilsachen und Strafsachen je getrennt, sog. offiziöse Ausgabe (Leipzig) —;
Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen — herausg. von Mitgliedern der