Reichstag. 409
Reichstag. I. Das konstitutionelle Prinzip im Deutschen Reiche.
Der (abgesehen von Mecklenburg) gemeindeutschen staatsrechtlichen Entwickelung ent-
sprechend erfolgte auch die staatliche Konstituirung des Deutschen Reiches, wie zuvor schon
des Norddeutschen Bundes in konstitutioneller Form. Das in Vertretung des Volkes
der Reichsregierung, insbesondere für die Gesetzgebung zur Seite stehende Organ ist
der R. Nothwendige logische Voraussetzung für die Ausübung parlamentarischer
Funktionen ist die Existenz eines Staates, dessen Bevölkerung eben im Parlament
ihre staatsrechtliche Vertretung zu finden hat; daraus folgt, daß das im Februar
1867 zur Berathung der Norddeutschen Bundesverfassung berufene Parlament staats-
rechtlich nur als Notablenversammlung, nicht aber als konstitutioneller Regierungs-
faktor betrachtet werden kann, und zwar ganz ebenso, wenn ihm eine „verfassungs-
vereinbarende als wenn ihm eine „verfassungsberathende“ Funktion durch
die Staatsverträge und Einzelstaatsgesetze zugewiesen wurde.
Der jetzige Deutsche R. ist die einheitliche (es giebt keine zwei Kammern
im Reiche) Vertretung des Deutschen Volkes, jedes einzelne Mitglied des R. ist
Vertreter des ganzen Volkes. Damit stand es in Widerspruch, wenn die Nerf.
ursprünglich (Art. 28 Abs. 2) für Materien, welche nicht dem ganzen Reiche nach
der Verfassung gemeinsam sind, die Antheilnahme von Abgeordneten, welche in
Staaten gewählt waren, auf welche die Reichsgesetzgebung in der betreffenden Materie
keine Anwendung fand, ausschloß: diese Prinzipwidrigkeit wurde durch Spezialgesetz
vom 24. Februar 1873 beseitigt. Daß die Wahlkreise zum R. nach den einzel-
staatlichen Grenzen bestimmt sind, ist an sich auch prinzipwidrig, war aber durch
praktische Erwägungen geboten. Jeder Deutsche aber kann prinzipiell an jedem
Orte des Reichsgebietes wählen und gewählt werden.
II. Die Bildung des R. Die Grundlage für die Bildung des R. ist der
Satz: daß auf je 1000000 Seelen je ein Abgeordneter zu wählen ist, mit der Mo-
difikation jedoch, daß mindestens in jedem Einzelstaate ein Abgeordneter gewählt
werden muß und daß ein Bruchtheil der Normalzahl, welcher die Hälfte über-
schreitet, für voll zu zählen ist. Die Feststellung der Wahlkreise beruht auf Gesetz:
die Zahl derselben beträgt dermalen 397, was jedoch dem Stand der Bevölkerung
nicht mehr entspricht (Preußen 236, Bayern 48, Sachsen 23, Württemberg 17,
Elsaß-Lothringen 15, Baden 14, Hessen 9, Mecklenburg-Schwerin 6, Sachsen-Wei-
mar, Oldenburg, Braunschweig, Hamburg je 3, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Koburg-
Gotha, Anhalt je 2, Mecklenburg-Strelitz, Sachsen-Altenburg, Schwarzburg-Rudol-
stadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß ä. L., Reuß j. L., Schaumburg-
Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen je 1 Abgeordneten). Die Abgeordneten sind nicht an
Aufträge oder Instruktionen gebunden, sie sind für die Ausübung ihres Abgeordneten-
rechtes („Mandates“) Niemandem verantwortlich.
Der R. geht hervor aus allgemeinen direkten Wahlen, welche in geheimer Ab-
stimmung vorzunehmen sind. Das Wahlrecht ist auf breiter demokratischer Basis
normirt, im Wesentlichen entsprechend den Bestimmungen des „Reichswahlgesetzes“
vom 12. April 1849. Wablberechtigt ist jeder Reichsangehörige männlichen Ge-
schlechtes nach vollendetem 25. Lebensjahre, falls er nicht unter Vormundschaft steht,
sich in Konkurs befindet, während des laufenden oder letztvergangenen Jahres Armen-
unterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln empfangen hat oder durch
gerichtliches Urtheil die bürgerlichen Ehrenrechte verloren hat; das Wahlrecht „ruht",
d. h. darf nicht ausgeübt werden bei Militärpersonen des aktiven Dienststandes, so
lange sie bei den Fahnen stehen, ausschließlich der Militärbeamten, ferner bei den-
jenigen Personen, die nicht in den Wahllisten verzeichnet sind, enolich bei denjenigen,
welche sich zur Zeit der Wahl nicht am Ort ihres Domizils befinden. — Wählbar
sind alle wahlberechtigten Personen, auch diejenigen, deren aktives Wahlrecht ruht;
der zu Wählende muß jedoch mindestens seit einem Jahre die Deutsche Staats-
angehörigkeit besitzen. Nicht wählbar sind: die Souveräne und deren Vertreter im