706 Sonntagsarbeit.
Dringlichkeitsfällen, Niemand verpflichtet.“ Genau dieselbe Fassung enthält die
RGew O. § 105 Abs. 2. Es waren zwar bei der zweiten Lesung in der Sitzung
des Reichstags vom 23. April 1869 weitergehende Anträge gestellt worden. Ins-
besondere hatte der Abg. v. Brauchitsch (Genthin) folgende Fassung vorgeschlagen:
„Die Arbeit in gewerblichen Anstalten ist an Sonn= und Festtagen verboten. Für
Dringlichkeitsfälle sind Ausnahmen, vorbehaltlich der Vereinbarung zwischen Arbeit-
geber und Arbeitnehmer, und mit Genehmigung der zuständigen Behörde zulässig.
Den Landesgesetzen bleibt vorbehalten, für einzelne Arten von Fabriken allgemeine
Ausnahmen herzustellen“; während der Antrag des Abg. Fritzsche und Gen. dahin
lautete: „Die regelmäßige Lohnarbeit an Sonn= und Festtagen ist verboten. Aus-
genommen hiervon ist die Lohnarbeit bei den Verkehrsanstalten, Gastwirthschaften
aller Art, öffentlichen Erholungs= und Vergnügungsanstalten und beim Handel
mit Lebensmitteln.“ Indessen wurden beide Anträge, nachdem der Bundeskommissar
Michaelis sich dagegen erklärt hatte, und nachdem der Abg. v. Hennig ins-
besondere geltend gemacht hatte, daß der Zwangsstaat sich überlebt habe, verworfen,
während der Abg. Braun scherzweise die Ausdehnung des Verbots der S. auf die
Wochentage anheim gab.
Die Frage kam dann von Neuem im Jahre 1878 bei Berathung der Gewerbe-
novelle zur Sprache. Damals hatte insbesondere die Kommission einen viel stärkeren
Schutz gegen den Mißbrauch der S. für nothwendig erklärt. In wesentlicher Ueber-
einstimmung mit dem Vorschlage der Kommission wurde auch bei der zweiten Lesung
am 4. Mai 1878 mit 123 gegen 117 Stimmen folgende Fassung angenommen:
„Die Gewerbtreibenden können die Arbeiter zum Arbeiten an Sonn= und Festtagen
nicht verpflichten; sie dürfen dieselben an Sonn= und Festtagen nicht beschäftigen.
in Fabriken und bei Bauten.“ Die letztere Bestimmung war übrigens durch eine
Reihe von Ausnahmen durchbrochen. Nachdem indessen der Bundesrath (Hoffmann,
Nieberding) diese Fassung für unannehmbar erklärt hatte, weil dadurch in das den
Landesgesetzgebungen gehörende Gebiet der Polizeivorschriften eingegriffen werde, und
außerdem auch ganze Industrien gefährdet werden könnten, so wurde bei der dritten
Lesung am 18. Mai 1878 mit nur einer Stimme Mehrheit (132: 131) der § 105
des Gesetzes vom 17. Juli 1878 nach einem Antrage Rickert in der Fassung der
Regierungsvorlage angenommen, wonach derselbe nunmehr dahin lautet: „Zum
Arbeiten an Sonn= und Festtagen können die Gewerbtreibenden die Arbeiter nicht
verpflichten. Arbeiten, welche nach der Natur des Gewerbebetriebs einen Aufschub
oder eine Unterbrechung nicht gestatten, fallen unter die vorstehende Bestimmung
nicht.“ Das Resultat ist mithin: Der § 105 schützt zwar ebensowol den Klein-
betrieb als den Großbetrieb, ein wirksamer Schutz liegt aber überhaupt nicht
vor, denn dieser Schutz ist nicht in die Sphäre des öffentlichen Rechts erhoben,
sondern lediglich der privatrechtlichen Regulirung anheimgestellt. Der Satz, daß
der Arbeiter zum Arbeiten an Sonn= und Festtagen nicht verpflichtet werden kann,
ist, wie der Abg. Stumm ganz richtig gesagt hat, vom praktischen Standpunkte
eine reine Redensart; es fehlt eben an jeder wirklichen Willensfreiheit der Arbeit-
nehmer, da ihre Zustimmung im Hinblick auf die sonst stattfindende Entlassung
nach spätestens 14 Tagen leicht zu erreichen sein wird; ganz abgesehen davon, daß
dem Arbeitgeber naturgemäß die Beurtheilung darüber anheimgestellt ist, ob gewisse
Arbeiten einen Aufschub oder eine Unterbrechung gestatten. Die ganze Bestimmung
bedeutet weiter Nichts, als daß der Arbeiter bei Verweigerung der S. in der
Regel nicht wegen Kontraktsbruchs civilrechtlich verantwortlich gemacht werden kann,
auch dann nicht, wenn er sich ausdrücklich verpflichtet hatte, da solche Verträge
insoweit nichtig sein würden.
Hinsichtlich der übrigen Länder gilt Folgendes. In Frankreich fehlt es an
einem Schutze für die Erwachsenen ganz. In England erstreckt sich die den Kindern
und jugendlichen Personen gewährte Arbeitfreiheit auch auf die Frauen. Dagegen