72 Polizeistrafverfahren.
richter geschah, entweder durch den Verletzten (delicta privata) oder irgend einen
Unbetheiligten (actio popularis). In der Kaiserzeit wurden außerdem Strassachen
von gewissen Polizeibeamten selbständig erledigt. So hatte der praefectus annonae
(vgl. Mommsen, Römisches Staatsrecht, II. 996 ff.) über die geringen Delikte, die
beim Getreideverkehr und Schiffahrtsbetrieb vorkamen, in einem wahrscheinlich ab-
gekürzten Verfahren zu erkennen, ebenso der praekectus vigilum (vgl. Mommsen,
S. 1010 ff.) über incendiari, effractores, fures, raptores, receptatores (I. 3 §8 1
D. 1, 15), wobei er aber in schwereren Fällen die Verhandlung an den praefectus
urbi abgeben mußte (I. u. C. 1, 43), dessen später sehr umfassende Kriminaljuris-
diktion sich auch erst allmählich aus einer polizeilichen von geringem Umfange ent-
wickelt hatte (Mommsen, 1013 ff.). — Im Deutschen Strafverfahren unterschied
man zwischen peinlichen und nicht-peinlichen Sachen. Die ersteren (Missethaten,
Ungerichte) waren mit Strafen belegt, „die an Hals und Hand gingen“ und nicht
abgekauft werden konnten, die anderen (Frevel, Brüche) wurden regelmäßig mit Geld
gebüßt. Nur die Ungerichte wurden „in strengem Recht“ (vor den Kriminal-
gerichten), die Brüche im „freundlichen“, „bescheidenen“ Recht (vor den Civilgerichten)
erledigt. Da man diese Unterscheidung mit einer bei den Italienern beliebten (in
delicta atrocia und leviora, vgl. z. B. J. Clarus, recept. sentent., 1. V § prim.
no. 9) identifiziren konnte, so behielt man sie sowol in der CCC (vgl. art. 104)
wie in der spätern Praxis bei. Es werden peinliche Strafen: an Leben, Ehre, Leib
oder Gliedern, den bürgerlichen: Landesverweisung, Gefängniß und Geldstrafe gegen-
übergestellt (vgl. Carpzow, Practica nova rer. crim. 102 no. 53). Die mit
bürgerlicher Strafe bedrohten Sachen gehörten vor die niederen Gerichte und wurden
auch prozessualisch in mancher Hinsicht verschieden behandelt (vgl. Carpzôw, l. c.
no. 20—25). Ein ähnlicher Unterschied kam auch in der Gesetzgebung zum Aus-
druck, indem neben den peinlichen Gerichtsordnungen, sowol für das Reich wie für
die einzelnen Territorien, Polizeiordnungen ergingen, in denen eine Reihe von weniger
bedeutenden Delikten mit Strafe bedroht wurde. Unter Polizei (der Ausdruck
kommt wol zuerst in § 40 der Reichsregimentsordnung von 1495 vor, welcher es
dem Reichsregiment zur Pflicht macht: Ordnung und Polizei fürzunehmen und die
Köstlichkeit und Ueberfluß aller Stände zu mäßigen) verstand man die Friedens-
bewahrung, die Sorge für Ordnung und gute Sitten. Die Reichspolizeiordnung
(zuerst 1530 auf dem Reichstage zu Augsburg erlassen, 1548 zu Augsburg wieder-
holt und 1577 durch den Frankfurter Reichsdeputationstag revidirt und gebessert)
sowie zahlreiche Verordnungen über Münzen, Handwerk und Handel (vgl. Stobbe,
Geschichte der Deutschen Rechtsquellen, II. S. 200 ff., und Gerstlacher, Handbuch
der teutschen Reichsgesetze, Th. IX.) konnten freilich nur den Rahmen abgeben, den
die Landesgesetzgebung im Einzelnen auszufüllen hatte. Es ergingen auch zu diesem
Zwecke allerorten zahllose einzelne Bestimmungen, durch die nach allen Richtungen
hin tief in das Privatleben eingegriffen wurde. Eine möglichst vollkommene Unter-
ordnung des Bürgers unter die staatliche Bevormundung war das Ideal des eudä-
monistischen Polizeistaates im 17. und 18. Jahrhundert, der seiner Pflicht nur zu
genügen meinte, wenn er die Individualität der Entwickelung beseitigen und die
Unterthanen auf Schritt und Tritt kontroliren und zurechtweisen konnte. Dem
entsprechend umfaßte die Polizei, d. h. die Sorge für das „Gemeinwohl“, beinahe
die ganze Staatsthätigkeit und alle Staatsorgane waren mit ihr befaßt, namentlich
auch die niederen Gerichte. Bei der Errichtung selbständiger Polizeibehörden über-
trug man diesen auch einen großen Theil der niedern Gerichtsbarkeit, theils um die
Gerichte zu entlasten, theils weil man die Polizeivergehen als wesentlich verschieden
von den kriminell strafbaren Handlungen betrachtete. Doch war dieser Gesichtspunkt
keineswegs ausschließlich maßgebend. Man bestimmte die Kompetenz der Polizei-
behörden vielmehr in höchst verschiedener Weise, indem man dabei Rücksicht nahm:
bald auf die Höhe der in abstracto angedrohten oder in concreto aufzuerlegenden