440 Hessen. Verhandlungen der zweiten Kammer.
ist derselbe Geist der Sühne und Gerechtigkeit durch die Geschichte gegangen.
Es sind noch nicht 80 Jahre, als Marat dem französischen Convent zurief:
es sei keine Zeit, von Recht, Freiheit und Verfassung zu reden, wo es sich um
Kampf und Macht handle. Die Franzosen übersetzten dieses Dictum in's Prak-
tische und ernteten, was sie gesäet: finstere, blutige Tyrannei im Innern, endlose
Kriege nach Außen, die Militärdictatur Napoleons des Ersten und zum Schluß
Einzug der Fremden in Paris. Das sind Gründe, meine Herren, aus denen
ich bedauere, daß das neue Gebäude der Deutschen Verfassung der Freihei#t
und des Rechts des Volkes entbehren soll. Das sind die Gründe, warum
ich gewünscht hätte, daß nicht auf dem Boden des Bürgerkrieges von
1866 weiter gebaut, sondern das neue Gebäude auf den reinen Boden von
1870 gestellt werde. Dann, und nur dann, wird sich auch eine andere
Wunde schließen, deren Herr v. Biegeleben schon erwähnt hat: sie heißt
Oesterreich! Ich will hierüber aber keine Erörterung geben, sondern blos
den Ausespruch eines nationalliberalen Geschichtsschreibers citiren. Heinich
v. Sybel sagt nämlich gelegentlich des Zerfalls des österreich-preußischen
Bündnisses in seiner Geschichte der französischen Revolution: „Die Wege
Oesterreichs und Preußens, durch Kaiser Leopolds Umsicht und die Hingebung
des Königs von Preußen einander genähert, schieden sich fast auf ein Men-
schenalter, welches durch diese Trennung mit unermeßlichen Lei-
den, unerhörter Demüthigung und unabsehbaren Erschütterun-
gen erfüllt werden sollte. Sie wichen von einander, des Gefühls des
Zusammengehörens gänzlich beraubt.“ Wenn ich nach alldem und trotz alle-
dem den Verträgen zustimme, so geschieht das nach dem, was ich gesagt,
nur in dem Sinnc, daß ich dieselben als ein höchst geringfügiges Resultat
einer großen Zeit betrachte und nur so acceptire. Ich habe es aber für
meine Pflicht erachtet, die Bedenken, die ich dagegen habe, hier niederzulegen
und mein Bedauern darüber auszudrücken, daß uns die besten und edelsten
Früchte, die aus dieser großen Erhebung für uns hätten hervorgehen sollen,
nicht gewährt werden. Es war dies keine dankbare Aufgabe in einer Zeit,
wo jede von der Tagesmeinung abweichende Ansicht für Hoch= und Landes-
verrath gilt. Ich habe es aber trotzdem für meine Pflicht gehalten, an
dieser Stelle Zeugniß abzulegen für das vergessene Recht des Volkes und
warnend auf die Gefahren hinzuweisen, die eine einseitige Anbetung der
Macht mit sich führt. Mag meine Stimme wohl verhallen unter dem
Siegestaumel Derer, die nicht zu ernüchtern sind, und mag es von Mauchen
für eitel Preußenhaß und Particularismus oder noch Schlimmeres gehalten
werden, daß ich mich so ausgesprochen; es wird mich nicht beirren, weil ich
der festen Ueberzeugung lebe, daß eine ruhigere Zeit mir wird Gerech-
tigkeit widerfahren lassen, daß man einst anerkennen wird, es seien Diejenigen
bessere Freunde Preußens und Deutschlands gewesen, die auch mitten im
Siegesjubel die einfache und ungeschminkte wenn auch bittere Wahrheit ge-
sagt, — bessere als die, die alles, was von dort herkommt, loben und sich vor