Full text: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Band III (3)

618 Baiern. Kammer der Abgeordneten. 
Der Herr Referent spricht in diesem Nachtrage sehr wenig oder eigentlich 
gar nichts von den Vortheilen, welche fuͤr Deutschland sich daraus ergeben, 
daß es endlich seine politische Einigung vollbracht hat; er spricht aber sebr 
viel von verschiedenen Bedenken, welche von dem spezifisch baierischen Stand- 
punkte aus gegen den vorliegenden Vertrag bestehen sollen, und in dieser 
Beziehung ist es nun meine Aufgabe, ihm zu entgegnen. Der Punkt, der 
dem Herrn Referenten am meisten Bedenken macht, ist die sogenannte 
eiseme Militärlast. Der Herr Referent ist noch immer der Meinung, es 
könne ohne den guten Willen der Krone Preußens an der gegenwärtigen 
Militärlast, weder was die Friedenspräsenzstärke noch was den Friedens- 
präsenzstand betrifft, irgend etwas geändert werden, der Reichstag habe dar- 
auf keinen Einfluß, und auch die übrigen Mitglieder des Bundesrathes 
hätten keinen, weil ja Preußen im Bundesrathe ein Veto zustehe, sobald es 
sich um Aenderung der Militäreinrichtungen handelt, und der Herir Refe- 
rent behauptet, unsere aufgestellte entgegengesetzte Interpretation der betreffen- 
den Verfassungsartikel widerspreche schnurgerade sowohl dem Wortlaute der 
einschlägigen Bestimmungen, als der Entstehungsgeschichte derselben. Ich er- 
laube mir dem entgegen, Sie vor Allem darauf aufmerksam zu machen, daß 
die Artikel 5, 37 und 78, auf die der Herr Referent Bezug nimmt, auf 
die Friedenspräsenzstärke und den Friedenspräsenzstand, d. h. die Formatiens= 
größe der aktiven Armee und den jeweiligen Präsenzstand gar nicht anwend- 
bar sind, denn unter den Militär-Einrichtungen, von welchen in Art. 5 und 
37 die Rede ist, sind nur die stabilen Cinrichtungen zu verstehen. Die 
Friedenspräsenzstärke und der Friedenspräsenzstand aber sind nach dem Wort- 
laute, wie nach dem Sinne und Geiste der Verfassung rariable Größen, die 
nur auf eine bestimmte Periode zwischen dem Bundesrathe und dem Reichs- 
tage festgesetzt werden. Schon der Wortlaut des Art. 60 wird genügen, 
um darzulegen, daß die Friedenspräsenzstärke nicht, wie der Herr Referent 
glaubt, in stetiger Weise durch die Verfassung festgestellt sei. Der Art. 60 
lautet: „Die Friedenspräsenzstärke des Bundesheeres wird bis zum 31. De- 
zember 1871 auf ein Prozent der Bevölkerung von 1867 normirt und wird 
pro rata derselben von den einzelnen Bundesstaaten gestellt. Für die spi- 
tere Zeit wird die Friedenspräsenzstärke des Heeres im Wege der Bundes- 
gesetzgebung festgestellt.“ Nun frage ich jeden Juristen: Wenn bei einem 
Gesetze der Termin, bis zu welchem das Gesetz Geltung hbaben soll, im Gr- 
setze selbst bestimmt ist, gilt dann nicht der Satz, daß die Wirksamkeit dieses 
Gesetzes mit diesem Termine ihra letze aufhört? Hier ist aber deutlich ge- 
sagt: „Für die Zeit nach dem 31. Dezember 1871 wird die Friedenspräsenz- 
stärke im Wege der Bundesgesetzgebung im Gegensatze zu diesem Verfassungs- 
paragraphen festgestellt"“. Es ist also klar, daß entweder vor dem 31. Dezem- 
ber 1871 ein Bundeygesetz gemacht werden muß, durch welches für die Folge- 
zeit die Friedenspräsenzstärke festgesetzt wird, oder daß wenn ein solches Ge- 
setz bis dahin nicht zu Stande käme, vom 1. Januar 1872 an ein geset-
	        
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