Erstes Buch. Allgemeiner Teil.
Kapitel I. Einleitung.
§ 1. Begriff und Aufgabe des deutschen Privatrechts. Unter deutschem Privatrecht
versteht man das in Deutschland geltende Privatrecht deutscher Herkunft.
Wie in der Rechtsgeschichte dargestellt ist, ging mit der Aufnahme der fremden Rechte
das einheimische Privatrecht bei uns keineswegs unter. Vielmehr erhielt es sich teils als ge-
meines Recht, teils in den Partikularrechten. Im gemeinen Recht blieb es anerkannt, soweit
es entweder in Reichsgesetzen festgestellt war oder aber durch die Rechtsprechung als gemeines
Gewohnheitsrecht gehandhabt wurde. Der größte Teil des sogenannten usus modernus Pan-
dectarum war deutschen Ursprungs. Noch umfangreicher war der deutschrechtliche Inhalt
der Partikularrechte, deren das gemeine Recht brechende Besonderheiten überwiegend aus
dem einheimischen Recht stammten. Vor allem erhielt sich in den Ländern, in denen der
Sachsenspiegel sein Ansehen behauptete, sächsisches Recht, dessen gemeinsame Sätze als „ge-
meines Sachsenrecht“ mit dem Vorrange vor dem gemeinen römischen Recht ein großes Gebiet
beherrschten. Darüber hinaus blieben nationale Rechtsanschauungen und Rechtssitten, wenn
auch von der gelehrten Jurisprudenz unbeachtet oder gar verspottet, in den engeren Volks-
kreisen lebendig.
Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts bahnte sich eine Wiedergeburt des deutschen
Rechts an. Die Entstehung einer germanistischen Rechtswissenschaft, die Parteinahme des
Naturrechts für germanische Rechtsgedanken und die Zurückdrängung des gemeinen Rechts
durch große Gesetzbücher, die in der Volkssprache geschrieben waren und zahlreiche einheimische
Rechtselemente aufnahmen, wirkten zusammen, um die Kraft des überlebenden deutschen
Rechts zu verjüngen. Mehr und mehr erwies es sich nun als befähigt, sich zu modernem
Rechte um- und fortzubilden. Aus deutschrechtlichen Keimen erwuchsen nun auch ganz neue
Rechtsinstitute, die den fremdrechtlichen Rahmen sprengten.
Infolge dieser Bewegung trat das deutsche Privatrecht unter dem neuen eigenen Namen
dem römischen Privatrecht bewußt als selbständige Macht gegenüber. Es wurde als besondere
Disziplin wissenschaftlich gepflegt und an den Universitäten gelehrt. Die Aufgabe, die diese
Disziplin sich setzte, war doppelter Art. In erster Linie zielte sie darauf ab, denjenigen Teil
des sogenannten gemeinen Rechts, der aus einheimischer Wurzel stammte, als „gemeines
deutsches Privatrecht“ in systematischer Form gesondert darzustellen. Insoweit lehrte sie ein
geltendes, unmittelbar anwendbares Recht. Die positiv-rechtliche Natur des gemeinen deut-
schen Privatrechts wurde zwar nicht nur von denen, die überhaupt die formelle Einheit des
gemeinen Rechts bestritten, sondern auch von manchen, die dem römischen Recht die Kraft eines
formell gemeinen Rechts zuschrieben, in Abrede gestellt, blieb aber in der Praxis unbezweifelt
und wurde auch in neuester Zeit vom Reichsgericht stets anerkannt. Das gemeine deutsche
Privatrecht bedeutete also für die Länder des gemeinen Rechts eine Ergänzung des die römisch-
rechtlichen Bestandteile des geltenden gemeinen Rechts darstellenden Pandektenrechts. Die
Disziplin des deutschen Privatrechts stellte sich aber außerdem die Aufgabe, die innere Einheit
der deutschen Partikularrechte aufzuzeigen. Sie suchte die ihnen gemeinsamen nationalen
Rechtsgedanken zu erforschen und die mannigfachen Sonderbildungen aus der ungleichartigen
Entwicklung deutsch-rechtlicher Keime abzuleiten und an den allgemeinen Ideen des deutschen