118 G. Anschutz.
gesetzeskraft beigelegt worden, so, daß es im Wege der Landezsgesetzgebung abgeändert
werden kann.
Die geltende Verfassung Elsaß-Lothringens gestaltet sich in ihren Grundzügen folgender-
maßen.
Elsaß-Lothringen ist auch heute noch, nach der Gesetzgebung von 1911, kein Einzelstaat
des Reichs, überhaupt kein selbständiges staatliches oder nichtstaatliches Gemeinwesen, sondem
nach wie vor eine Provinz des Reichs: ein Reichsland, d. h ein reichsunmittelbares Gebiet,
in dem die Reichsgewalt ausschließlich und allein herrscht. Dies ist sowohl in der Begründung
wie bei der Beratung des Verf.-Ges. vom 31. Mai 1911 unzweideutig anerkannt worden (ogl.
Laband 2 233, 234). Ein bei der Beratung im Reichstage gestellter Antrag, im Gesetze
auszusprechen, daß Elsaß-Lothringen einen selbständigen Bundesstaat des Deutschen Reiches
bilde, wurde, nachdem er vom Bundesrate als unannehmbar bezeichnet worden war, abgelehnt.
Das Reichsland wurde nicht in das Verzeichnis der Staaten, Art. 1 RV., ausgenommen. Und
wenn es in dem nun eingeführten Art. 6à RV. heißt: „Elsaß-Lothringen gilt im Sinne des
Art. 6 Abs. 2 und der Art. 7 und 8 als Bundesstaat" (s. oben S. 96), so folgt hieraus durch
Gegenteilsschluß, daß das Land kein Bundesstaat ist. Wesentlich für die Nichtstaatlichkeit des
Reichslandes ist femer, daß ihm jedes Selbstbestimmungsrecht in bezug auf die Grundlagen
seiner Organisation, seiner Verfassung, fehlt. Die Verfassung Elsaß-Lothringens ruht nicht
auf dem Willen des Landes, sondem auf dem des Reichs: Verfass.-Ges. vom 31. Mai 1911.
a) Die Regierung. — „Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen übt der Kaiser
aus“ (Verfass.-Ges. § 1). Diese Staatsgewalt ist keine von der Reichsgewalt im Subjekt oder
sonst verschiedene Gewalt, sondern sie ist die Reichsgewalt, bezogen auf das Reichsland
und beschränkt auf den Umkreis der elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten (s. oben S. 117).
In dieser örtlichen und sachlichen Begrenzung ist der Kaiser Träger der Staatsgewalt
(oben S. 25) und übt demgemäß, im Gegensatz zu seiner Stellung im gemeingültigen Ver-
fassungssystem des Reichs, nicht nur die ihm ausdrücklich übertragenen, sondern alle ihm nicht
entzogenen Staatshoheitsrechte aus. Im Hinblick auf § 1 Verfass.-Ges. kann auch das oberste
der Reichsorgane, der Bundesrat, in elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten eine Zuständig-
keit nur insoweit behaupten, als sie ihm durch Gesetz ausdrücklich verliehen ist.
Die Regierungsakte des Kaisers in elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten bedürfen
zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des in Straßburg residierenden Statthalters.
Letzterer wird vom Kaiser unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers ernannt und abberufen
(Verfass.-Ges. § 2 Abs. 1). Er ist in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Minister des
Kaisers („Spezialreichskanzler") für Elsaß-Lothringen eine gesetzlich notwendige,
die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für die elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten
und dessen Einfluß auf diese Angelegenheiten völlig ausschaltende Einrichtung. Fakultativ
dagegen ist die Stellung des Statthalters als Regierungsstellvertreter des Kaisers („Vize-
kaiser"), zugelassen durch Verfass.-Ges. § 3: „Der Kaiser kann dem Statthalter landesherrliche
Befugnisse übertragen. Der Umfang dieser Ubertragung wird durch kaiserliche Verordnung
bestimmt, die vom Reichskanzler gegenzuzeichnen ist“. Die UÜbertragung lautet auf die Person
des jeweiligen Statthalters und ist jederzeit widerruflich. Soweit der Statthalter von der Über-
tragung Gebrauch macht, bedarf er zum Erlaß der betreffenden Regierungsakte der Gegen-
zeichnung des Staatssekretärs (s. unten). Letzterer vertritt auch den Statthalter in
dessen ministerieller Eigenschaft (kann also insbesondere Kaiserliche Erlasse in elsaß-lothringischen
Landesangelegenheiten an Stelle des Statthalters rechtswirksam kontrasignieren), während
eine Stellvertretung des Statthalters als „Vizekaiser“ nicht stattfindet.
Der Staatssekretär steht an der Spitze des Ministeriums für Elsaß- Loth-
ringen. Deiese oberste Verwaltungsbehörde des Reichslandes vereinigt in sich die Kom-
petenzen zweier früheren, durch das Verfassungs= und Verwaltungsgesetz vom 4. Juli 1879
aufgelösten Behörden: des Reichskanzleramts für Elsaß-Lothringen (in Berlin) und des Ober-
präsidiums (in Straßburg), sie steht zu dem Statthalter in demselben Unterordnungsverhältnis
wie die obersten Reichsämter (oben S. 114) zum Reichskanzler. Das Ministerium (ein Uni-
versal-, kein Ressortministerium) ist in Abteilungen mit sachlich abgegrenztem Wirkungskreis
gegliedert, die von je einem Unterstaatssekretär geleitet werden.