78 G. Anschütz.
und 3). Es liegen hier Bindungen der Reichsgewalt vor, welche von ihr selbst in modum pacti
gemeint sind. Will das Reich sich ihrer entledigen, so bedarf es hierzu — wofern materielles
Unrecht vermieden werden soll — der Zustimmung der Berechtigten. Wie diese Zustimmung
erklärt wird, ist gleichgültig. Abgabe der Stimme des betreffenden Staates im Bundesrate
für ein sein Sonderrecht abänderndes oder aufhebendes Reichsgesetz ist eine ausreichende Form.
Zweites Kapitel.
Die natürlichen Grundlagen des deutschen Staates
(Land und Leute).
1. 8 14. Das Gebiet #.
Vgl. zunächst die allgemeinen Bemerkungen oben S. 6, 7. Die besondere Gestaltung
der Gebietshoheit in Deutschland als in einem Bundesstaate mit unmittelbar Land und Leute
beherrschender Zentralgewalt ist die, daß eine doppelte Gebietshoheit besteht; jeder Streifen
deutschen Landes gehört zu einem Einzelstaate und mit diesem zum Reiche, steht mithin unter
der Gebietshoheit des Einzelstaates und des Reiches zugleich. Nur in den reichsunmittelbaren
Gebieten (oben § 11 III), dem Reichslande Elsaß-Lothringen und den Schutzgebieten, gilt dieser
Grundsatz natürlich nicht: in Ermangelung einer Landesstaatsgewalt herrscht dort das Reich
auch gebietshoheitlich allein, gibt es nur eine Gebietshoheit, und diese ist des Reichs.
Die Frage nach der Kompetenzabgrenzung zwischen den beiden konkurrierenden Gebiets-
hoheiten, der des Landes und der des Reiches, ist grundsätzlich nicht anders zu beantworten als
die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Reichs= und Einzelstaatsgewalt überhaupt: s. oben
§# 11. Soweit dem Reiche auf Grund seiner Verfassung Kompetenzen beigelegt sind — z. B.
das Recht, Krieg zu führen und Frieden zu schließen, Art. 11 —, stehen ihm auch diejenigen
gebietshoheitlichen Rechte zu, welche mit jenen Kompetenzen untrennbar verbunden sind, und
ohne welche die Kompetenzen nicht oder nicht vollständig ausgeübt werden könnten, — wie
etwa, um bei dem angeführten Beispiel zu bleiben, die Befugnis, in Friedensverträgen Reichs-
gebiet an das Ausland abzutreten. Es reiht sich hieran die weitere, allgemeinere Frage, in-
wiefern Reich und Einzelstaat überhaupt, jede Gewalt für sich, unabhängig von der anderen,
Veränderungen ihres Gebietes, sei es durch Abtretungen, sei es durch Erwerbungen, vornehmen
kann. Vor Erörterung dieser Frage sind die Formen zu betrachten, welche das Landesstaats-
recht einerseits, die Reichsverfassung anderseits für Gebietsveränderungen erfordem.
Von den deutschen Landesverfassungen enthält die pre ußische hierüber die einfachsten
und klarsten Vorschriften. Sie legt in Art. 1 den zur Zeit ihres Inkrafttretens bestehenden
territorialen status quo fest — „alle Landesteile der Monarchie in ihrem gegenwärtigen Um-
fange bilden das preußische Staatsgebiet“ — und fährt dann, Art. 2, fort: „die Grenzen dieses
Staatsgebietes können nur durch ein Gesetz verändert werden“. Das hiermit ausgesprochene
Erfordernis der Gesetzesform, d. h. eines in verfassungsmäßigem Zusammenwirken von Krone
und Volksvertretung ergehenden Staatswillensaktes, erstreckt sich auf alle Grenzverände-
rungen, auf Gebietserwerbungen nicht minder wie auf Gebietsabtretungen. Weder Annexionen
noch Zessionen darf in Preußen die Krone ohne Zustimmung des Landtags vornehmen. Anders
nach dem Staatsrecht der Mittelstaaten. Hier wird die landtägliche („ständische") Zustimmung
nur für die Abtretung von Staatsgebiet erfordert, während die auf Erwerbungen gerichteten
Regierungsakte des Staatsoberhauptes solcher Zustimmung nicht bedürfen. Für Württemberg
1 Meyer-Anschütz §74; Laband 1 l8 21—23; v. Seydel, Komm. z. RV., An-
merkungen zu Art. 1; derselbe, Bgayer. Staatsrecht 1 3 83; v. RKoenne-Zorn, Staatsr.
d. preuß. Monarchie 1 § 11; Anschütz, Preuß. Verfassungsurkunde 1 70 ff.; Fricker, Vom
Staatsgebiete (1867); derselbe, Gebiet und Gebietshoheit (1901); W. van Calker, Be-
sprechung der letzteren Schrift Frickers in den Krit. Vierteljahrsschrift, 3. Folge, 10 603 ff.;
Bansi in Hirths Annalen 1898 S. 641 ff.; Fleischmann, Art. „Landesgrenze“ in seinem
Wörterb. des Staats-- und Verwaltungsrechts.