Full text: Allgemeine Staatslehre

478 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre. 
Alles Recht wird zu solchem nur dadurch, daß es nicht 
our den Untertan, sondern auch die Staatsgewalt bindet. ‚Recht 
in diesem vollen Sinne des Wortes ist also die zweiseitig ver- 
bindende Kraft des Gesetzes, dic eigene Unterordnung der Staats- 
gewalt unter die von ihr selber erlassenen Gesetze‘!). Erläßt 
der Staat ein Gesetz, so bindet es nicht nur die einzelnen, sondern 
auch seine eigene Tätigkeit rechtlich an dessen Normen. Er be- 
fiehlt im Gesetze auch den ihm als Organe dienenden Personen, 
ıhren Organwillen dem Gesetze gemäß zu gestalten. Da aber 
der Organwille Staatswille ist, so bindet der Staat durch Bindung 
der Organe sich selbst. Der Staat ist eine Einheit, daher ist die 
Unterordnung der Verwaltung und Rechtsprechung unter das 
Gesetz ein Vorgang, der zugleich innerhalb der einheitlichen 
Staatsgewalt sich abspielt. Diese Bindung ist aber nicht etwa 
moralischer, sondern rechtlicher Natur. Alle Garantien des öffent- 
lichen Rechtes verfolgen in erster Linie den Zweck, die Bin- 
dung der Staatsgewalt an die von ihr festgesetzten Normen zu 
gewährleisten. 
Solche formale Bindung ist aber auch gegenüber der recht- 
schaffenden Tätigkeit möglich?). Deutlich tritt das dort hervor, 
wo verschiedene Organe für die einfache und die Verfassungs- 
gesetzgebung existieren, wie vor allem in den Vereinigten Staaten. 
Dort sind nicht nur Garantien geboten dafür, daB einfache Ge- 
setze nicht in das Gebiet der Verfassungsgesetzgebung über- 
greifen, in manchen Staaten ist sogar geraume Zeit hindurch 
jede Verfassungsänderung verboten gewesen). In letzterem Falle 
gab es keine rechtliche Möglichkeit, innerhalb des betreffenden 
Zeitraumes den Verfassungsgesetzgeber in Bewegung zu, setzen. 
Noch heute gibt es eine große Zahl von Gliedstaaten der Union, 
welche die Formen der Verfassungsänderung derart erschweren, 
daß mehrere Jahre vergehen müssen, ehe ein Amendement Ge- 
setzeskraft gewinnen kannt). In der Zwischenzeit aber ist 
  
1) Jhering Zweck im Recht I, 4. Aufl. S. 2781. 
°) Vgl. G.Jellinek Gesetz und Verordnung S. 261 ff. 
3) So z.B. in Massachusetts, wo die Verfassung von 1780 Ch. VI 
Art. X verfügte, daß vor 1795 keine Revision stattfinden könne; Poore 
The Federal and State Constitutions, Washington 1877 I p. 972. 
4) In vielen Staaten muß das Amendement zwei Legislaturen 
passieren und hiernach dem Volke zur Abstimmung vorgelegt werden. 
Die Dauer einer Legislatur beträgt in der Regel zwei Jahre. Die
	        
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