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Einleitung.
Wer etwa glauben wollte, daß der Aberglaube nur lediglich noch
kulturgeschichtlich als Teil der Volkspsyche früherer Entwicklungsperioden
für den Forscher von Interesse sei, der dürfte sich sehr irren, gerade
die bizarrsten Gedanken und Vorurteile pflanzen sich jahrhundertelang
fort. Die Worte von Stollbergs: „Des Aberglaubens alte Rechte er—
strecken sich auf jedes Haupt, noch ist im menschlichen Geschlechte ihr
Einfluß größer als man glaubt“ haben noch heute volle Geltung. Der
Aberglaube, dieser unausrottbare Rest aus der Jugend der Menschheit,
ist der wirkliche ewige Jude, der, in der Welt herumwandernd, nicht
sterben kann; „das Vorurteil ist ewig jung, wie seine Mutter, die Phan-
tasie, es wird ja alle Tage neu geboren.“ Goethe, einer der feinfühligsten
Beurteiler menschlichen Empfindens, sagt vom Aberglauben (Sprüche in
Prosa Nr. 35): „Er gehört zum Wesen des Menschen und flüchtet sich,
wenn man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten
Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaßen sicher
zu sein glaubt, wieder hervortritt.“ Der Hang nach dem Wunderbaren
und Übersinnlichen ist in der menschlichen Natur tief begründet, er liegt
dem Menschen gleichsam im Blute. Und nicht ist der Aberglaube nur
im niederen Volke heimisch, er durchzieht alle Kreise der menschlichen
Gesellschaft, stand doch selbst ein Mann wie Bismarck in seinem Bann.
Ja, Hand aufs Herz, wer von uns möchte sich gänzlich davon freisprechen?
Ist auch so manches von dem, was der Vorfahren heiligster Ernst war,
den Enkeln zur geselligen Unterhaltung geworden, so wird doch das,
was jenseits unseres Wissens und Könnens liegt, stets ein Tummelplatz
des Aberglaubens bleiben trotz Forschung und Kulturfortschritt. Dahin-
gegen läßt der Einfluß der Neuzeit und ihrer Kultur einen Rückgang
des alten Volkstums und seiner Überlieferungen erkennen. Wie mancher
schöne und sinnige Brauch aus der Zeit, wo „der Großvater die Groß-
mutter nahm“, ist schon jetzt spurlos verschwunden. Und doch welch
hohen Wert haben Volkssitten und Volksbräuche zur Charakterisierung