Titel I. Allgemeine Bestimmungen. § 3. 75
AMinderjührige, wolche das achtzchnte Lebensjahr noch nicht vol-
lendet haben, können im Wege der Zwangserzichung in einer geeigneten
Familie oder in einer Erzichungsanstalt oder in einer Besserungsanstalt
untergebracht werden,
J. wenn die Voraussctzungen des § 1666 (vgl. mit § 1686) oder des.
*1838 des Bürgerlichen Gesctzbuchs oder des §& 55 des Straf-
gesctzbuchs vorliegen und die Massregel zur Verhütung der sitt-
lichen Verwahrlosung notwendig ist;
wWenn die Zangserziehung ausser diesen Fällen zur Verhütung
des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist.
Gegen nichtbadische Minderjährige, die im Grossherzogtum ihren.
Wohnsit= oder Aufenthalt haben, kann die Zwangserzichung aufgrund
dieses Gesetzes angeordnet werden, wenn die Zustündigkeit eines ba-
lischen Vormundschaftsgerichts begründet ist.
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Nach § 1 der zum Vollzuge des Zwangserziehungsgesetzes vom 4. Mai 1886
erlassenen Verordnung des Ministeriums des Junern vom 27. November 1886
(Schulv.-Bl., 1886, S. 122) haben die Schulbehörden die Obliegenheit, alsbald
Mitteilung an das Bezirksamt zu machen, wenn ihnen bezüglich jugendlicher Per-
sonen Thatsachen bekannt werden, welche nach den Umständen des Falles — sei es
mit oder ohne Vorliegen einer strafbaren Handlung — die Unterbringung zur
Zwangserzichung wegen sittlicher Verwahrlosung im Sinne des § 1 des Gesetzes
begründet erscheinen lassen.
Die Lehrer sind zufolge Anordnung der Oberschulbehörde verpflichtet, be-
züglich der ihre Schule besuchenden Kinder Umstände, welche die Anordnung der
Zwangserziehung veranlassen könnten, sobald sie zu ihrer Kenntnis gelangen, unver-
züglich der Ortsschulbehörde zur Anzeige an das Bezirksamt mitzuteilen. Den Orts-
schulbchörden liegt ob, in allen Fällen, in denen ein schulpflichtiges Kind aus
irgend welchem Grund Anlaß zu einer Antragstellung auf Unterbringung zur Zwangs-
erziehung bietet, gleichzeitig mit der Anzeige an das Bezirksamt, oder wenn die
Anzeige von einer anderen Behörde ausgeht, sobald sie Kenntnis hievon erhalten,
der vorgesetzten Kreisschulvisitatur eingehenden Bericht zu erstatien; die letztere hat
den betreffenden Bericht alsbald zur Kenntnisnahme der Oberschulbehörde vorzulegen.
Die Kreisschulräte haben ferner die in ihren Bezirken gelegenen Lehr= und Er-
ziehungsanstalten, in denen sittlich verwahrloste Kinder untergebracht sind, gleich den
Volksschulen mindestens alle zwei Jahre einer Visitation zu unterziehen und über
die hiebei gemachten Wahrnehmungen jeweils Bericht an die Oberschulbehörde zu er-
statten. Wegen Beseitigung etwaiger Mißstände, die sich bei der Prüfung ergeben,
ist nach Maßgabe des § 27 der Ministerialverordnung vom 27. November 1886
alsbald unmittelbar Antrag an das zuständige Bezirksamt zu stellen. O. Sch.N.,
13. Jannar 1887, Nr. 910 (Runderlaß). «
Anlaß, die Unterbringung zur Zwangserziehung zu beantragen, wird jedenfalls
gegeben sein, wenn gegen ein schulpflichtiges Kind, das durch sein Verhalten die Sitt-
lichkeit der Mitschüler gefährdet, die Bestimmung in § 3 Abs. 2 des E.U.G. in Au-
wendung gebracht werden müßte. Bei dem Vollzuge der Zwangserziehung wird in
derartigen Fällen regelmäßig nur eine „Austaltserziehung“ (§8§ 23 ff. V.O.
vom 27. November 1886) inbetracht kommen können.
Jeder Lehrer, welcher eine verwahrloste jugendliche Person zur Zwangs-
erziehung in seine Familie aufnehmen soll und will, hat hievon als bald durch die be-