Kriegserklärung nach deutschem Völkerrecht. 69
Die Mehrzahl der großen Kriege seit 1854 wurde mithin
durch eine Kriegserklärung eingeleitet. Man kann demnach!?)
zwar die Existenz einer internationalen Gewohnheit der Kriegs-
erklärung behaupten. Eine völkerrechtliche Verpflichtung zur
Kriegserklärung aber bestand weder nach positiver Rechtssatzung
noch nach Gewohnheitsrecht irgend eines Staates. Denn es gibt
einerseits keine völkerrechtlichen Verträge, in denen eine der-
artige Verpflichtung zur vorherigen Anzeige des Krieges unter
den Staaten begründet worden wäre, noch läßt sich andererseits
das Vorhandensein einer derartigen Pflicht nach Gewohnheits-
recht beweisen. Zur Begründung von gewohnheitsrechtlichen Nor-
men des Kriegsrechts insbesondere genügt es keineswegs, daß
verschiedene Staaten im Kriege mit anderen die Kriegserklärung
gewohnheitsmäßig anwenden. Vielmehr kann eine völkerrecht-
liche Verpflichtung zur Kriegserklärung eines Staates nach Ge-
wohnheitsrecht nur dann entstehen, wenn dieser Staat mit den-
selben fremden Staaten wiederholt Krieg geführt hat unter An-
wendung einer vorherigen Benachrichtigung und in der Ueber-
zeugung, daß diese Staaten gegenseitig zu einer solchen Anzeige
verpflichtet seien. Zwei andere Staaten, die die Kriegserklärung
nicht gewohnheitsmäßig üben, können der Verletzung solcher
Normen, die für sie gar nicht bestehen, auch nicht beschuldigt
werden. Die Anerkennung der Verpflichtung zur Kriegserklä-
rung durch letztere Staaten ist mangels einer vertraglichen Rechts-
satzung nur dann möglich, wenn diese Staaten gleichfalls die
Kriegserklärung in der Praxis anwenden. Tun sie dies aber
nicht, so lehnen sie damit die Aufnahme einer derartigen „all-
gemeinen Gewohnheit“ in ihr Völkerrecht ab.?)
Wie für das Völkerrecht der europäischen Staaten über-
haupt, so kann insbesondere für das deutsche Völkerrecht eine
er allerdings zu dem Resultate, daß die Feindseligkeiten, denen eine Kriegserklärung
vorausging, weitaus die Minderheit bilden.
1) Mit A. Pillet, Les lois actuelles de la guerre S. 63 ff. und Blin
de Bailleul, S. 77 flf.
2) Dagegen ist die Bildung von völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht in Bezug
auf solche Verhältnisse leichter, „die ihrer Natur nach dem Wandel nicht unterworsen
sind und folgemäßig einen bleibenden Bestandteil der rechtlichen Anschauung der
zivilisierten Völker bilden“ (Ullmann, Bölkerrecht S. 43), wie z. B. die See-
rechtsgewohnheiten des Mittelalters und das Gesandtschaftswesen.