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kaum Andeutungen. Und wenn, wie es im späteren Mittelalter in zahl-
reichen Städten, namentlich bezüglich der Pest geschah, Vorschriften
über die Seuchenbekämpfung erlassen wurden, so beschränkten sich
diese doch mehr auf Warnungen und diätetische Vorschriften und ent-
hielten keine wirksamen Schutzmaßregeln. Auch bezogen sich alle
solche Verordnungen auf einzelne Krankheiten, während nirgends ein
zusammenfassendes Seuchengesetz erlassen wurde.
Die Erklärung hierfür ist in der mangelhaften Kenntnis der alten
Ärzte von der Entstehung und Verbreitung der Seuchen zu suchen.
Spielten doch früher die wunderbarsten Anschauungen hierüber nicht
nur in der Volksmenge, sondern auch unter den Ärzten eine Rolle.
Daß die übertragbaren Krankheiten verschiedenen spezifischen Keimen
ihre Entstehung verdanken, daß sie von Person zu Person übertragbar
sind, diese Erkenntnis ist eine Errungenschaft erst des vorigen Jahr-
hunderts. Im Mittelalter und bis in die spätere Zeit glaubte man die
Pest und andere Volksseuchen auf Erdbeben, atmosphärische und
tellurische Einflüsse u. dgl. zurückführen zu sollen; was wunder, daß
man nichts Wirksames gegen ihre Verbreitung anzugeben wußte. Stand
man doch noch bei dem ersten Erscheinen der Cholera in Europa dieser
furchtbaren Seuche wehrlos gegenüber.
Aber gerade der Cholera ist es zu danken, daß die Verhältnisse
anders wurden.
Sie gab die Veranlassung zum Erlaß des ersten umfassenden
Seuchengesetzes, des preußischen Regulativs über die sanitäts-
polizeilichen Vorschriften bei den am häufigsten vor-
kommenden ansteckenden Krankheiten vom 8. August 1835,
dessen Ausarbeitung König Friedrich Wilhelm III. durch Kabinetts-
ordre vom 19. Januar 1832 einer sachverständigen Kommission auf-
getragen hatte. Die Arbeit der Kommission, an deren Spitze General-
leutnant von Thiele stand, war im wesentlichen das Werk des
späteren Präsidenten der Medizinalabteilung des Kultusministeriums,
Wirklichen Geheimen Obermedizinalrats Dr. Rust. Sie war für ihre
Zeit mustergültig und wurde nicht nur für die Seuchengesetzgebung
anderer Staaten vorbildlich, sondern klingt auch noch in zahlreichen
Bestimmungen des Reichsgesetzes vom 30. Juni 1900 wieder.
Die durchgreifenden Wandlungen, welche die wissenschaftliche
Erkenntnis von der Entstehung, Verbreitung und Bekämpfung der Seuchen
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erfuhr, konnten jedoch
nicht ohne Einfuß auf die Seuchengesetzgebung bleiben. Der von
Henle in Göttingen schon 1844 ausgesprochene Gedanke, daß die
ansteckenden Krankheiten durch belebte Krankheitserreger erzeugt
würden, wurde durch Louis Pasteur, Robert Koch und ihre
zahlreichen Schüler als zutreffend erwiesen. Ein Krankheitserreger
nach dem andern wurde entdeckt, in Reinkultur gezüchtet, und sein