Full text: Die gesetzlichen Grundlagen der Seuchenbekämpfung im Deutschen Reiche unter besonderer Berücksichtigung Preußens.

— 1535 — 
Findet die Behandlung in einer öffentlichen Sprechstunde statt, so können 
die Kranken angehalten werden, sich an bestimmten Orten zu bestimmten 
Tagen und Stunden zur Untersuchung und Behandlung einzufinden. 
S 7 Abs. 1 Br.G. (wörtlich gleichlautend wie $S 9 Abs. 1 Pr.G.). 
Durch S 9 Abs. 1 wird den Behörden das Recht verliehen, Per- 
sonen, welche an Körnerkrankheit leiden und nicht glaubhaft nach- 
weisen können, daß sie sich in ärztlicher Behandlung befinden, zu 
einer solchen zwangsweise anzuhalten. Der Grund hierfür liegt in 
dem Umstande, daß die Beschwerden und Schmerzen, welche die 
Körnerkrankheit erzeugt, verhältnismäßig gering sind, und daß infolge- 
dessen die Kranken im allgemeinen wenig Neigung verspüren, sich in 
die mit Opfern an Zeit und Geld verbundene Behandlung eines Arztes 
zu begeben. Nach der übereinstimmenden Auffassung der Behörden 
und Ärzte in den von der Körnerkrankheit hauptsächlich heimgesuchten 
Bezirken ist jedoch die Ausrottung dieser Seuche nicht möglich, wenn 
nicht die Erkrankten, soweit sie hierzu nicht sich selbst entschließen, 
von Amts wegen angehalten werden, sich behandeln zu lassen. Es 
genügt aber nicht, überhaupt eine Behandlung eintreten zu lassen, 
sondern es wird ausdrücklich eine ärztliche Behandlung verlangt, weil 
der eigenartige Oharakter der Körnerkrankheit es mit sich bringt, daß 
nur durch eine wohldurchdachte Behandlungsweise, wie sie ein Kur- 
pfuscher nicht auszuüben vermag, eine Heilung zu erreichen ist. 
In den allgemeinen Ausführungsbestimmungen zu $ 9 wird näher 
erläutert, in welcher Weise der Behandlungszwang durchgeführt 
werden soll. 
In Abs. 1 wird zunächst bestimmt, daß die zwangsweise An- 
haltung zur ärztlichen Behandlung nur in Orten und in Bezirken ge- 
schehen soll, in welchen eine planmälige Bekämpfung der Körner- 
krankheit stattfindet. Bekanntlich ist die Körnerkrankheit hauptsächlich 
im Osten der Monarchie in den Provinzen Ost- und Westpreußen, Posen 
und Teilen der östlichen Bezirke von Pommern, Brandenburg und 
Niederschlesien verbreitet; außerdem kommt sie im Ruhrkoblenrevier, 
auf dem Eichsfelde und in einigen Teilen der Rheinprovinz in größerer 
Verbreitung vor. Eine planmäfige Bekämpfung der Körnerkrankheit, 
unter Aufwendung erheblicher Staats- und Kommunalmittel, findet 
seit dem Jahre 1897 in der Provinz Ostpreußen statt und hat bereits 
zu einer merklichen Einschränkung der Krankheit, sowohl nach der 
Zahl als nach der Schwere der Erkrankungen, geführt. Es wird ın 
nächster Zeit dazu übergegangen werden müssen, auch in den anderen 
Provinzen, namentlich in der Provinz Posen, in ähnlicher Weise vor- 
zugehen. Außerhalb des Bereichs dieser Bekämpfung Personen, welche 
an der Körnerkrankheit leiden, zwangsweise der ärztlichen Behand- 
lung zuzuführen, schien über das Bedürfnis hinauszugehen, weil sich 
merkwürdigerweise gezeigt hat, daß, wenigstens nach den bisherigen
	        
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