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Was bei der Betrachtung dieser Zahlen betrüben mul, ist die
Tatsache, daß sie seit Jahren fast völlig dieselbe Höhe zeigen, während
andere Infektionskrankheiten, namentlich Diphtherie, Tuberkulose und
Typhus, einen merklichen Rückgang erkennen lassen. Da auch das
Kindfettfieber vermeidbar ist, kommt alles darauf an, die richtigen
Maßregeln zu seiner Verhütung und Bekämpfung zu ergreifen.
Außerhalb Preußens ist das Kindbettfieber fast in sämtlichen deut-
schen Bundesstaaten unbedingt anzeigepflichtig. Eine Ausnahme machen
nur Sachsen-Weimar, wo nur eine beschränkte Anzeigepflicht be-
steht, sowie Sachsen und Württemberg, wo jede Anzeigepflicht fehlt.
5. Diejenige Augenkrankheit, welche jetzt als „Körnerkrank-
heit“ (Granulose, Trachom) bezeichnet wird, ist im Regulativ unter
der Bezeichnung „kontagiöse Augenentzündung“ als eine Krankheit
erwähnt, die „sich bisher hauptsächlich im Militär gezeigt hat“. Mit
Rücksicht hierauf wurde eine Anzeigepflicht für sie bei Zivilpersonen
nicht eingeführt. Eine solche mußte auch so lange noch undurchführ-
bar erscheinen, als man auf dem unitarischen Standpunkt stand und
annahm, daß die kontagiöse Augenentzündung unter gewissen Verhält-
nissen aus einfachen Augenlid-Bindehautentzündungen entstehen könnte.
Erst die Forschungen der neueren Zeit haben die Körnerkrankheit als
eine spezifische, von anderen ähnlichen Prozessen, wie Follikularkatarrh
u. dgl.., wohl zu unterscheidende Krankheit kennen gelehrt und die
Einführung der Anzeigepflicht gerechtfertigt, die um so notwendiger
war, als man erkannt hat, daß die Krankheit vielfach, namentlich
durch Wanderarbeiter aus ihrem endemischen Gebiet in den russischen
Östseeprovinzen, Russisch-Polen und den preußischen Provinzen Ost-
preußen und Posen nach dem Norden und dem Westen des Deutschen
Reiches verschleppt wird. Auf diese Weise is es gekommen, daß die
Körnerkrankheit, welche in den östlichen Teilen Preußens, in Ost-
preußen, Westpreußen, Hinterpommern, Posen seit Jahrhunderten hei-
misch war, sich weiter und weiter nach Westen ausgedehnt und bereits
in der Provinz Sachsen, in einzelnen Teilen des Eichsfeldes und der
Provinz Westfalen Herde gebildet hat. Die Gefahren, welche die
Krankheit für die Ausbildung, die Erwerbs- und die Wehrfähigkeit der
Bevölkerung mit sich bringt, haben dahin geführt, daß seit dem
Jahre 1897 unter Aufwendung erheblicher staatlicher und kommu-
naler Mittel ein energischer Kampf gegen die Granulose aufgenommen,
und seit 1899 jährlich der Betrag von 350000 M. für diesen Zweck
durch den preußischen Staathaushaltsetat bereitgestellt worden ist.
Nach dem Urteil der beteiligten Behörden ist die erfolgreiche Durch-
führung dieses Kampfes nicht möglich ohne die Einführung der An-
zeigepflicht für die Krankheit, welche es ermöglicht, alle Fälle fest-
zustellen und zu verfolgen.
Kirchner, Seuchenbekämpfung. 2