Tirol. „Sage mir doch, mein Lieber,“ sprach Huß, „was Dich in 2
später Nacht zu mir führt?“ „Mir hat geträumt“, antwortete
der Tiroler, „daß ich nach der Bergstadt St. Joachimsthal gehen und
das unweit davon gelegene verwünschte Grauensteiner Schloß von
seinem Zauber befreien soll. Du bist in der Gegend bekannt und wirst
mir gewiß den Weg zum Grauenstein zeigen.“ „Diesen Freundschafts-
dienst kann ich Dir, Waghals, schon erweisen; wir gehen um elf Uhr
hinauf,“ entgegnete der treuherzige Huß seinem ehemaligen Waffenge-
fährten. — Nachdem beide den freien Platz erreicht hatten, der im
Volksmunde „Kuhplatz“ heißt, hörten sie aus der Ferne eine liebliche
Musik. Hier blieb Huß stehen, während der Tiroler bergauf in der
Richtung weiter ging, woher die Wunderklänge drangen. Endlich kam
er gegen Mitternacht am Grauensteine an und sah auf einmal vor
sich das verzauberte Schloß, strahlend im wundervollen Lichtglanze,
wie er sein Lebtag noch keinen gesehen. Furcht und Freude kämpften
bei diesem Anblicke in seinem Herzen; aber jemehr er sich dem Schlosse,
dem Ziele seiner Wünsche, näherte, desto größere Schweißtropfen
traten auf seine Stirn. Schon stand er beim offenen Portale, da
kehrte er, von Angst und Grauen überwältigt, wieder um; in demselben
Augenblicke jedoch donnerte und krachte es und im Nu waren die
Lichter samt dem Schlosse, das noch immer seiner Erlösung harrt,
verschwunden.
106. Das Glockengeläute im Leidenswalde bei Platten.
(Mündlich.)
Fünfzehn Minuten von Platten liegt ein Wald, der Leidenswald
genannt; in diesem soll vor vielen Jahren ein Mann nach seinem
Tode seines gottlosen Lebenswandels wegen verbannt gewesen sein.
Wenn man früher durch diesen Wald ging, hörte man ein leises
Glockengeläute; dasselbe ist aber verstummt, seit man in dem nahen
Platten des Nachts 12 Uhr eine Glocke läutet. Die Leute glauben
nun, daß damit auch der Verbannte im Leidenswalde erlöst worden sei.
107. Der Leichenweg und Kirchhof zwischen Neidhardsthal und
Ischorlau.
(Mitgeteilt vom Lehrer E. Schlegel aus Zschorlau.)
Als vor Jahrhunderten im Erzgebirge die Pest wütete, berührte
sie auch den kleinen Ort Neidhardsthal. Die Leichen wurden auf einem
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