Er als derselbe fünf Jahre alt war, brachte der Ritter ein *-
jähriges Mädchen mit, welches er im Walde schlafend angetroffen
hatte. Das Mädchen erblühte nach und nach zur herrlichen Jung-
frau und so geschah es, daß sie von dem Junker Werner, dem Sohne
Ottos von Greifen, mit welchem sie auf der Burg erzogen worden
war, herzlich geliebt wurde. Werners Eltern ahnten nichts von diesem
Verhältnisse; doch eine Entdeckung konnte nicht ausbleiben, da die
Frucht der heimlich gehaltenen Liebe heranreifte. Unglücklicherweise
aber geschah die Entdeckung zu einer Zeit, wo Werner ausgezogen war,
einem alten Freunde seines Vaters, dem Ritter Bruno von Schar-
fenstein, gegen den räuberischen Rekko von Nauenstein, welcher vor
achtzehn Jahren Brunos schwangere Gemahlin geraubt hatte, und seitdem
mit jenem in Fehde lebte, in einem Kampfe beizustehen. Als Ritter
Otto von Greifen von dem heimlichen Verhältnisse seines Sohnes zu
seiner Pflegeschwester hörte, zieh' er dieselbe in seinem Stolze der Ver-
führung und ließ sie in das Verließ seiner Burg hinabstoßen. Hier
genaß das verlassene Mädchen eines Kindes und in einer sie befallen-
den Geistesstörung schleuderte sie dasselbe an die Mauer des Gefäng-
nisses. Plötzlich aber stieg aus dem Boden eine Geistergestalt auf
und sprach: „Heil mir, wehe dir! Seit langen Jahren bin ich wegen
einer gleichen That zum ruhelosen Umherwandeln verurteilt worden.
Jetzt bin ich durch dich erlöst und du wirst meine Stelle so lange
einnehmen, bis einst ein keusches Weib, das niemals einen unreinen
Gedanken in seiner Seele gehabt hat, in stiller Mitternacht deinen
Namen dreimal ohne Furcht rufen wird!“ Die Gestalt verschwand,
und das gefangene Mädchen sank zu Boden, um in fürchterlicher
Raserei wieder zu erwachen, wobei sie sich endlich den Kopf wie den
ihres Kindes an der Gefängnißmauer zerschmetterte. Ihr Geist aber
erschien in der Nacht dem hartherzigen Pflegevater und verkündete seinem
Hause Verderben. Reuig eilte er in den Kerker, wo er den Leichnam
seiner unglücklichen und verstoßenen Pflegetochter neben dem ihres
Kindes fand. Da ließ er beiden ein ehrendes Begräbnis bereiten;
doch eben, als dies geschah, kehrte sein Sohn wieder zurück. Derselbe
war voller Freude, denn durch ihn war der räuberische Rekko von
Nauenstein gefallen, und in der Todesstunde hatte derselbe bekannt, daß
Brunos von Scharfenstein geraubte Gemahlin eines Döchterchens sehr
schwer genesen und an den Folgen der Entbindung gestorben sei. Das
Kind aber habe er bei einem Köhler des großen Schellenberger Waldes
zwei Jahre lang erziehen lassen und dann, als es ihm lästig geworden
sei, weiter für dasselbe zu sorgen, im Freiwalde, ohnweit Ottos Burg
aussetzen lassen. Dieses Kind war also kein anderes, als Werners
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