102. König Maximilian II. von Bayern. 485
Nationalliteratur. Ob der König dies klar erkannte, ob er es bloß ahnte?
Ich weiß es nicht. Jedenfalls handelte er demgemäß.
Ubrigens hatten die gesellig heiteren Zusammenkünfte des Dichterkreises
schon frühe einen lehrhaften Anstrich. Mit dem Vortrage der eigenen neuesten
Arbeiten wechselten planvoll geordnete Proben aus der Weltliteratur aller
Zeiten und die kritische und kunsthistorische Debatte ergab sich dann von selbst.
Nun war aber schon durch Liebig ein rein wissenschaftliches Element in
den Dichterkreis gekommen, andere Gelehrte wurden gleichfalls als Stammgäste
geladen und so bildete sich — seit 1855 — der Dichterkreis unvermerkt in
einen Gelehrtenkreis um. Die Dichter fehlten zwar niemals und ein Gedicht
gab dem Abende auch fürderhin seinen künstlerischen Schmuck und Abschluß.
Allein die Wissenschaft gewann denn doch die Vorhand, ja nicht selten leitete
sie uns von der Theorie zur Praxis, zur Erörterung politischer, sozialer,
religiöser Fragen des Tages. Wir selbst begannen unsere Tafelrunde um diese
Zeit nicht mehr den Dichterkreis, sondern das „Symposion“) zu nennen;
1) „Die Symposien folgten einander schon in kurzen Zwischenräumen weniger Tage.
Der König schien großes Gefallen daran zu finden und brachte immer neue Fragen aufs
Tapet, über die er zunächst den gerade Sachverständigsten unter uns zu hören wünschte.
Doch verliefen die späteren Abende nicht ganz wie die ersten. Mehr und mehr wurde es
Brauch, daß in der ersten Stunde ein wissenschaftliches Thema aus den verschiedensten Gebieten
durchgesprochen wurde, ein naturwissenschaftliches oder ästhetische und literarhistorische, dann
vorwiegend soziale und völkerpsychologische Probleme. Hierauf erhob sich der König und
ging in das Billardzimmer voran, wo eine Partie Boule gespielt wurde, während deren er
einen oder den anderen in eine Fensternische zog und mit ihm besprach, was im Angendlicke
ihn beschäftigte. War dies beendet, so verfügte man sich wieder an den langen Tisch und nun
hatten die Dichter das Wort, die sorgen mußten, daß immer etwas zum Vorlesen bereit war.
So verklang der Abend nach manchen, oft stürmischen Debatten tönereich und harmonisch
und man blieb, wenn die Majestät sich zurückgezogen hatte, in heiterer Stimmung beisammen.
Was diesen Abenden einen besonderen Reiz und Wert verlieh, war die unbedingte Rede-
freiheit, die zuweilen sogar in sehr unhösischem Maße an die Grenze des Zanks sich ver-
irrte. Hatte man in der Hite des Gefechts dann vergessen, daß die Gegenwart des Königs
doch einige Rücksicht erheischte, und hielt plötzlich inne mit einer Entschuldigung, daß man
sich zu weit habe fortreißen lassen, so bemerkte der König mit freundlichem Lächeln: Ich
bitte sich ja keinen Zwang anzutun. Ich habe nichts lieber, als wenn die Geister auf-
einander platzen“.
Als es tiefer in den Sommer hineinging, wurden die Symposiasten nach Nymphen-
burg geladen, in die reizenden Rokokosäle der Amalienburg und Badenburg, wo man, wenn
man nicht gerade das Protokoll zu führen hatte, die Augen zu der offenen Flügeltür hinaus.
über den kleinen See schweifen lassen und sich an der glänzenden Sternennacht erquicken konnte.
So sehr war der König von der Wichtigkeit dieser Abendunterhaltungen durch-
drungen, daß er, so gütig er sonst sich mir bewies, meine Bitte einige Tage vor dem
Schluß der damaligen Symposien entlassen zu werden nicht gewährte. Ich erhielt nicht
eher Urlaub, als bis ich die Reinschrift des letzten Protokolls in der Kabinettskanzlei ab-
geliefert hatte.“
Paul Heyse, „Jugenderinnerungen und Bekenntnisse.“ V. König Max und das alte
München. S. 230 ff. Berlin 1900.