40 10. Kolonisierende und germanisierende Tätigkeit des bayerischen Stammes.
Karls Regierung ist reich an Gewalttaten. Wie sehr man seinen schöpfe-
rischen Geist, seine Willenskraft, seinen Unternehmungssinn bewundern mag, in
einzelnen seiner politischen Maßregeln verrät er noch die Spuren altgermanischer
Barbarei. „Verschwunden hinter der Klostermauer“" kehrt fast wie ein regel-
mäßiger Refrain in der Geschichte Karls des Großen wieder.
10. Kolonisierende und germanisierende Tätigkeit
des bayerischen Stammes, insbesondere auf dem Nordgau.
Von M. Doeberl.
Wie das Leben des einzelnen erst dann einen höheren Wert erlangt,
wenn er heraustritt aus dem engen und beengenden Kreise jener Tätigkeit.
die lediglich seiner Selbsterhaltung gewidmet ist, und sich in den Dienst einer
größeren Gemeinschaft, in den Dienst einer höheren sittlichen Aufgabe stellt,
so ist es auch mit dem Leben eines Volkes. Eine höhere Mission erfüllt
ein Volk, wenn es entweder produktiv weiterarbeitet an der kulturellen Ent-
wicklung der Menschheit, oder wenn es seine Nationalität und die über-
kommene Gesittung schützt gegen den Ansturm barbarischer Völker, noch mehr,
wenn es ihm gelingt diese Kultur und diese Nationalität hinauszutragen in
barbarische oder halbbarbarische Nachbarländer und zugleich Raum zu ge-
winnen für nachkommende Generationen. Eine Kulturaufgabe nach beiden
letztgenannten Richtungen hin ist vornehmlich zwei deutschen Stämmen zuge-
fallen, die an der Ostmark des Reiches saßen und so manche Charaktereigenschaft
miteinander teilten, dem sächsischen und dem bayerischen, jenem im Nordosten,
diesem im Südosten. Man hat mit Recht diese Kolonisation des
Ostens die größte Tat des deutschen Volkes genannt; mehr als
die Hälfte des heute von Deutschen bewohnten Gebietes ist so gewonnen
worden, die Wiege unserer beiden deutschen Großmächte stand nicht innerhalb
der alten Gebiete des Reiches, sondern auf einem Felde, das erst bayerische
und sächsische Kulturarbeit erschlossen.
Der Sieg des Deutschtums auf dem ungeheuren Gebiete von der Elbe
bis zum Peipussee in Rußland, auf der noch heute sogenannten „wendischen
Ebene“, ist das Werk der nordöstlichen Kolonisation. Aber diese Ausbreitung des
Deutschtums erfolgte erst im 12. und 13. Jahrhundert. Damals, als im
Nordosten der deutsche Ritter und der deutsche Bauer, wie der deutsche Mönch
über die Elbe drangen, klangen bereits vom bayerischen Kolonisationsgebiete,
vom Hofe der Babenberger Markgrafen, in die deutschen Lande herüber die
Lieder und Weisen eines Ritters von Kürenberg, eines Reinmar des Alten,
eines Walter von der Vogelweide. Der bayerische Stamm ist eben am frühesten
1) Vgl. Beilage der Allgem. Zeitung, München 1904, Nr. 141 und 142, und
M. Doeberl „Entwicklungsgeschichte Bayerns“ I. S. 123, 132 ff.