Full text: Lesebuch zur Geschichte Bayerns.

126. Eine gefährliche Eisenbahnfahrt. 603 
Die wenigen in dem zurückgelassenen Bahnzuge befindlichen bayerischen Kranken, 
Verwundeten und Rekonvaleszenten, welche noch marschfähig waren, schlossen 
sich an und mit tiefer Betrübnis den Bahnzug im Stiche lassend kehrten die 
Angehörigen der Feldeisenbahn-Abteilung als die Letzten der Stadt Orléans 
den Rücken. Zögernd marschierten die Bayern rückwärts, aber noch war die 
Hoffnung nicht erloschen, daß die rettende Lokomotive sich nahe. Erst als 
der Bahnhof allmählich außer Sicht kam, schwand alle Hoffnung den zurück- 
gelassenen Zug zu bergen. So erreichte die kleine Schar Les Aubrais, den 
wenige Kilometer von Orléans gelegenen großen Rangierbahnhof und hier, 
wo alles noch in tiefer Ruhe und kein Mensch zu sehen war, machten die 
Bayern nochmals Halt, sich fast die Augen nach ihrer Retterin ausschauend. 
Da — plötzlich — lieblicher hat kaum je eine Musik lauschenden Ohren ge- 
klungen — der Pfiff einer Lokomotive; das konnte nur der „von der Tann“ 
sein und mit Jubelruf empfangen dampfte auch schon die Maschine heran. 
Allerlei kleine Unfälle, Rostverschlackung, Wasseraufnahme u. a. m. hatten sie 
aufgehalten. 
Nun aber war guter Rat teuer. Sollte man nochmals in die Löwen- 
höhle zurück, wo vermutlich der bayerische Zug schon gestürmt und demoliert 
und das Schicksal der Gefangenschaft, wenn nicht Argeres, den Umkehrenden 
sicher war? Befehlen konnte man das nicht; so rief der Ingenieur: Frei- 
willige vor, und im Augenblicke saßen und standen etwa 20 der wackeren 
Geniesoldaten, alle mit den gefürchteten Chassepots wohlbewaffnet, auf dem 
Tender, während Ebermayer mit dem Bahnmeister die Maschine bestiegen hatte; 
und vorwärts ging es wieder nach Orléans, was die Maschine laufen konnte. 
Da stand noch der verlassene Zug, unangetastet, wenn auch wild umtobt 
von dem andrängenden Volke. Einzelne deutsche Soldaten, welche erst nach 
dem Abmarsch der Bayern sich noch aus der Stadt an den Bahnhof gerettet, 
hatten mit ihren Waffen die andrängende Menge immer noch im Schach ge- 
halten. Im Nu war die Maschine an den Zug angekuppelt, alles schien ge- 
wonnen, da — meldet der Zugführer ganz phlegmatisch, daß die Maschine 
kein Wasser mehr habe! Man muß wissen, was eine Lokomotive ohne Wasser 
ist, eine unbehilfliche, tote Masse, um den ganzen Schrecken der Leute zu er- 
messen. Und die Wasservorrichtungen im Bahnhof unheilbar zerstört! Hatte 
man doch auch schon tags vorher und desselben Tages früh die Maschine nur 
mittels Schlauches und einer von der Stadt requirierten Feuerspritze mit 
Wasser versehen können! Aber die Spritze mußte noch an einem benachbarten 
Weiher stehen und richtig, sie zeigte sich unberührt, und als, wie auf einem 
lecken Schiffe, das Kommando ertönte: „Alle Mann an die Pumpe!“", da 
wurde die Pumpe mit einem Feuereifer bedient, wie vielleicht vorher selten bei 
der größten Feuersbrunst. Es vergingen peinliche Minuten, bis endlich das 
Wasser am ersten Probierhahnen sprang. Nun genug! Schon will der 
Führer Dampf geben, doch Halt! Man mußte auch sorgen, daß, wenn unter-
	        
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