139. Schloß Neuschwanstein. 631.
und Wüstling, der auf seine Kriegstaten so eitel, auf seine Würde so wenig
bedacht war!
Wie gesagt, der König blätterte nicht in seinen Büchern; als wenn
ihm der Hofmeister noch über die Schulter sähe, las er das bändereichste
Werk gewissenhaft zu Ende. Doch wie gewissenhaft er studierte, seiner Jugend,
Eigenart, Begabung gemäß verlangte er nach Anschauung.
Von der Rindenbank im Schwangau, die, ich weiß nicht, von ihm oder
anderen „Die Jugend“ genannt wurde, sah er auf das väterliche Schloß
Hohenschwangau. Ein trautes Daheim, doch von der Burg, die er träumte,
verschieden wie ein zartes Rosa von Scharlachrot. Er sah einen stolzen Bau
mit Palas und Bergfried aufleuchten über dem Waldgebirge, die Burg auf
dem Felsen über der tobenden Pöllat, sah den Thronsaal würdig der Grals-
burg, die fröhliche Sängerhalle, die mit ihren Erkerfenstern ins weite Land
schaute.
Auch geschichtliche Erinnerungen waren nicht ohne Einfluß. Dort auf
dem steilen Tegelfelsen hatten die Ritter von Schwangau gewohnt, sein väter-
liches Hohenschwangau war der Sitz der Emporkömmlinge Paumgarten
gewesen. Als diese Paumgarten den Schwangau erworben hatten, wählten
sie — wahrscheinlich der freundlichen Lage zuliebe — Schwanstein zu ihrem
Sitz. Das alte Gebäude wurde 1538 niedergerissen und machte einem
prächtigeren Platz. Als im Laufe der Zeiten auch dies Werk zerfallen war,
stieg Maximilians II. Hohenschwangau aus dem Getrümmer. Ludwig II.
jedoch wollte seine Schwanenburg dort, wo das altadelige Geschlecht gewohnt
hatte, wollte seine Burg eins mit dem Felsen, von dem Konradin in die
sinkende Sonne sah.
Wie sein Traum traumhafte Wirklichkeit geworden, weiß heute die Welt.
Im Jahre 1869 wurde der Grundstein gelegt. 1873 lugte der Torbau, eine
kleine Burg für sich, aus dem Tannicht über der Pöllatschlucht. Das erste
Stockwerk über dem Tore enthält Dienerzimmer, die Gemächer im zweiten
Stock wurden für den König eingerichtet. Hier wohnte er oft wochenlang
um den Königsbau wachsen zu sehen.
Vom Dorfe Schwangau führt eine bequeme Fahrstraße hinauf zum
Tegelfelsen, aus dem der vierstöckige Königsbau 200 m über der Talsohle
herauswächst. Die Straße ist natürlich eigens für das Bedürfnis dieses Königs-
baues, der mehr als 12 Jahre währte, bis sein Bauherr in ihm sich behaglich
niederlassen konnte, hergestellt worden. Pulver und Dynamit mußten das
widerstrebende Gestein sprengen um den Zugang breit und bequem zu machen.
Da, wo der Boden nachgiebiger war, mußten gewaltige Aufmauerungen aus-
geführt werden. Im Westen fällt der Fels steil gegen die Ebene ab, im
Süden und Osten gähnt der Schlund mit dem stürzenden Wildbach. Von
welcher Seite man den Palas betrachtet, ist er von herrlicher Wirkung, der
Blick aus jedem Fenster schön, über Waldeswipfel auf das Gebirge oder über