140. Bayreuth. 639
Fassade trägt die Inschrift: „Hier, wo mein Wähnen Friede fand, Wahn-
fried sei dieses Haus von mir benannt.“ Darüber eine allegorische Kompo-
sition in Sgraffito-Manier, darstellend Wotan als Wanderer (den deutschen
Mythus) mit zwei Frauengestalten (Tragödie und Musik) und dem Knaben
Siegfried (Kunstwerk der Zukunft). Vor dem Hause erhebt sich aus einem
Boskett die Büste König Ludwigs II. Hinter dem Hause gegen den Hofgarten zu
liegt die Grabstätte des Meisters; eine efeuumrankte mächtige Steinplatte
ohne jegliche Inschrift deckt die Gruft.
Nun ist es Zeit geworden, daß wir uns zum Festspielhause aufmachen,
wo eine Aufführung „Der Meistersinger von Nürnberg“ uns heute erwartet.
Zu Fuß und zu Wagen streben gleich uns Hunderte und aber Hunderte den
Hügel hinan. Schon von weitem leuchtet uns der rote Bau des Theaters
entgegen, bei dessen Anblick sich ganz unwillkürlich der Vergleich mit dem
markgräflichen Opernhause aufdrängt. Größere Gegensätze sind kaum denkbar.
Dort ein üppiges Prunkgebäude, bei dem auf das praktische Bedürfnis kaum
Rücksicht genommen war, hier ein schlichter und schmuckloser, ja architektonisch
dürftiger Nutzbau, bei dem der Gedanke möglichster Zweckmäßigkeit als einzige
Richtschnur für Plan und Ausführung gedient hatte. Die offen zutage tretende
konstruktive Gliederung in zwei scharf voneinander sich abhebende Teile, das
Halbrund des Zuschauerraums und das fast turmartig hoch darüber empor-
ragende Viereck der Bühne gibt dem Hause seine charakteristische Silhouette.
Für das Auge imponierend sind an dem durchaus das Gepräge des Provi-
sorischen tragenden Fachwerkbau eigentlich nur die Größenverhältnisse. Die
Gesamthöhe (von der Versenkungssohle bis zur Dachspitze) beträgt rund 48 m,
die Bühne ist (einschließlich der ungefähr 12 m langen und breiten Hinter-
bühne) fast 24 m lang und 29 m breit, die bebaute Grundfläche hat 3284 qm.
Inzwischen hat das Gedränge und Gewühle der Menschen auf dem
Platze immer mehr zugenommen. Helle Trompetenklänge dringen an unser
Ohr. Es sind die Fanfaren, die den Beginn der Aufführung anzeigen.
Ihrer Aufforderung folgend betreten wir das Innere des Festspielhauses. Die
ganze Anlage des Zuschauerraumes weicht durchaus ab von dem, was wir
von unseren gewöhnlichen Opernhäusern her kennen und gewohnt sind. Alles
ist so eingerichtet, daß das Auge des Zuschauers einzig und allein auf die
Betrachtung des Bühnenbildes hingewiesen wird. Nichts lenkt ihn ab; wie
an der Außenseite, so ist auch im Innern auf jeglichen dekorativen Schmuck
verzichtet. Von allen Plätzen des großen, über 1600 Personen fassenden
Hauses ist der Ausblick auf die Bühne gleich gut; Seitenlogen fehlen voll-
ständig, ebensowenig gibt es Stehplätze. Ein nach rückwärts allmählich an-
steigendes und sich verbreiterndes Amphitheater enthält die Sitzplätze für das
Publikum. Im Hintergrunde schließen zwei die ganze Breite des Raumes
ausfüllende Logenreihen (die Fürstenloge und darüber die obere Galerie) das