Full text: Lesebuch zur Geschichte Bayerns.

70 17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum. 
17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum. 
Von Hermann Stöckel.“ 
Jedem, der die Geschichte des deutschen Volkes aufmerksam verfolgt, 
drängt sich von Anfang an eine gewisse Mannigfaltigkeit der Erscheinungen 
auf, die sich aus der Verschiedenheit der Stämme unserer Nation ergibt. 
Können sie auch alle — der schweigsame Friese wie der ernste Sachse, der 
bewegliche Franke wie der frohsinnige Thüringer, der tüchtige Schwabe wie 
der treuherzige Bayer — als Söhne eines und desselben Hauses die Gemein- 
samkeit der Abstammung nicht verleugnen, so zeigt doch auch jeder von ihnen 
eine so ausgeprägte Sonderart, die er von jeher in einem kräftigen Eigen- 
leben betätigte, daß darin ein Hauptreiz der Beschäftigung mit der Geschichte 
des deutschen Volkes liegt. Und wie die natürliche Veranlagung der Brüder 
verschieden ist, so auch das, was jeder von ihnen zur Ausgestaltung der Grund- 
züge des gemeinsamen deutschen Wesens beigesteuert hat. Wenn vom wetter- 
festen Friesen, dem äußersten Hüter deutscher Erde gen Nordwesten, der von 
jeher den „goldenen Gürtel“ seiner Deiche gegen das beutelüsterne Meer zu 
schützen hatte, ein alter Spruch sagt: „Frisia non cantat“, so bewies der 
südöstlichste der deutschen Stämme, der um die stolze Donau und im erhabenen 
Alpengebirg seine Heimat gefunden, von Anfang an eine ausgesprochene Nei- 
gung und Befähigung zum Singen und Sagen. Und so ist dieser Stamm 
der Bajuwaren, wenn er auch als letzter in die Geschichte eingetreten, doch 
nicht der letzte an geistiger Begabung und an Betätigung dieser seiner Geistes- 
gaben in dem friedlichen Wettkampf, in dem die Söhne Germanias die Jahr- 
hunderte deutscher Geschichte hindurch ihre Kräfte maßen. 
„Tole sint uualhd, spähe sint peigirf; luzic ist spähe in uualbum, 
meéra hapéônt tolaheiti denne späh#“, toll (unklug) sind (die) Walchen 
(Welschen), spähe (klug) sind (die) Bayern; wenig ist Spähe (Klugheit) in (den) 
Walchen, mehr haben (sie) Tollheit (Unklugheit) denn Spähe (Klugheit) — 
mit diesem in den Kasseler Glossen:) uns überlieferten Bekenntnis nicht ge- 
ringen Selbstgefühls, das sich dem befremdenden Gebaren einer anderen 
Volksart gegenüber in naivem Selbstlob äußert, tritt der Bayernstamm in das 
deutsche Schrifttum ein. 
Bald aber beansprucht er nicht nur sondern beweist er auch geistige Reg- 
somkeit, indem er teilnimmt an der Entwickelung der althochdeutschen Dichtung. 
„Das hört' ich unter den Lebenden als das höchste der Wunder, 
Daß Erde nicht war noch Überhimmel, 
Noch Baum (nicht stund) noch Berg nicht war, 
Nicht (der Sterne) einer noch Sonne nicht schien, 
Noch Mond nicht leuchtete noch die mächtige See. 
1) Eines der sachlich angeordneten Wörterbücher der Karolingerzeit, das in bayerischer 
Mundart abgefaßt, in einer Handschrift aus dem Kloster Fulda auf uns gekommen und 
nach seinem Aufbewahrungsort benannt ist.
	        
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