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Im Jahre 1892 hat nun der Reichstag eine vermittelnde
Ansicht verfolgt und durch Beschluß vom 18. März nur die je-
weils Wahlberechtigten für aktivlegitimiert zur Wahlanfechtung
erklärti)). Auch dieser Beschluß berief sich auf Art. 29 RV.,
stand aber mit der Auffassung des Abgeordneten Windthorst
gänzlich im Widerspruch. Diese letztere Auffassung scheint mir
in Bezug auf Art. 29 die richtigere zu sein; denn jeder Abge-
ordnete ist Vertreter des ganzen deutschen Volkes, nicht aber
nur Vertreter der Gesamtheit der deutschen Wähblerschaft!
Wenn aber Hatscheke) behauptet, der Beschluß von 1892 habe
im Widerspruch zur Geschäftsordnung gestanden, weil hiernach
auch jeder Abgeordnete, der unter Umständen nicht wahl-
berechtigt gewesen sei, (z. B. als Deutscher im Schutzgebiete
ohne Wohnsitz in Deutschland"), zur Wahlanfechtung befugt
gewesen sei, so ist das m. E. nicht richtig; denn gerade die Ge-
schäftsordnung selbst machte, wie oben festgestellt wurde, einen
klar erkennbaren Unterschied zwischen Wahlanfechtungen und
Einsprachen bezw. Bezweiflungen der Gültigkeit. Der Beschluß
von 1892 spricht aber nur von Wahlanfechtungen!
Wie Lesers) richtig betont, hatte die Anfechtung in der
Tat Abnlichkeit mit einer Denunziation"). Diese war aber
keineswegs in ihren Folgerungen einer gewöhnlichen Denun-
ziation gleichzusetzen. Daher kann ich mich auch nicht seiner
Ansicht anschließen, daß oie im erwähnten Beschluß festgesetzte
Beschränkung mit dem Wesen der Wahlanfechtung kaum im
Einklang gestanden habe. Denn durch die Anfechtung wurden
die Abgeordneten als Vertreter und somit auch der Reichstag
als Vertretung des deutschen Volkes betroffen, und es würde
zu sehr der Würde der Abgeordneten und auch des Reichstags
widersprochen haben, wenn jeder beliebige, man denke nur an
1) Sten. Ber. 1890/91, Bd. 7. S. 4835ff.
2) a. a. O. S. 511.
3) a. a. O. S. 74.
4) Vgl. v. Seydel, Reichstag, S. 394, Anm. 1, v. Seydel, Komm.
S. 207.