332 & 34. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht.
Wir nennen denjenigen »wahlberechtigt«, in dessen Person
diejenigen Voraussetzungen zusammentreffen, welche
das (resetz als Bedingungen aufstellt, unter denen seiner Stimme eine
rechtliche Wirkung auf die Zusammensetzung des Parlaments zukommt.
Hieraus ergeben sich zahlreiche Konsequenzen. Das Wahlrecht
ist ein Zustand; es ist kein jus quaesitum; es folgt allen Wandlungen
des Verfassungsrechts und verändert sich mit ihm wie ein Schatten
desselben ohne Rücksicht auf die Zustimmung des einzelnen »Wahl-
berechtigten«. Es kann nicht zum Gegenstand irgend einer Privat-
verfügung gemacht werden; es ist unübertragbar, unveräußerlich, un-
vererblich. Auch kann der »Wahlberechtigte« nicht verlangen, daß
Hindernisse, welche seiner Stimmabgabe entgegenstehen, beseitigt wer-
den, damit er sein Wahlrecht ausüben könne; insbesondere ist der
Dienstbote, Arbeiter, Geschäftsgehilfe, Beamte u. s. w. nicht berechtigt
zu verlangen, daß er vom Dienst beurlaubt werde, um zu wählen;
ebensowenig kann der in Untersuchungs- oder Strafhaft befindliche
Wahlberechtigte verlangen, in das Wahllokal geführt zu werden!). Es
liegt keine Verletzung des Wahlrechts vor, wenn Wahlberechtigte durch
Einberufung zum Militär- oder Gerichtsdienst oder durch Dienst- oder
Geschäftsreisen an der Stimmabgabe gehindert werden. Wenn durch
Naturereignisse die Beteiligung an der Wahl für ganze Wählergruppen
unmöglich gemacht ist, so sind sie in ihrem »Recht« nicht verkürzt,
und sie können nicht verlangen, daß sie noch nachträglich ihre Stim-
men abgeben dürfen ’?).
Die Vorschriften zur Sicherung der Ausübung des Wahlrechts
haben daher in erster Linie die Tendenz, die verfassungsmäßige Or-
ganisation des Reichs, das allgemeine Wahlrecht als Bestandteil der-
selben, als objektive Institution des Verfassungsrechts zu schützen,
und nur infolge davon, also sekundär, dienen sie zugleich dazu, die
Teilnahme des einzelnen an der Wahl zu schützen ?).
der Anspruch auf Anerkennung desselben kein Rechtsanspruch, sondern der Anspruch
auf Anerkennung eines Nichtrechts. Uebrigens kommt es bei Ausübung des soge-
nannten Wahlrechts dem Berechtigten doch allein darauf an, daß er mit abstimmen
darf; nicht darauf, daß eine Behörde seinen „aktiven Status anerkennt“. Diese An-
erkennung hilft ihm nichts, wenn ihm trotz derselben nicht gestattet wird, zu wählen,
und wenn er tatsächlich mitstimmen darf, wird er auf die Anerkennung seines Status
gewiß gern verzichten. Daß das Wahlrecht keineswegs in dem Recht zu wählen
bestehe, klingt nicht bloß, wie Jellinek selbst bemerkt, paradox, sondern ist es.
1) v. MohlS.343ff.; Seydel, Annalen S. 363 a. E., 364. Anderer Ansicht
Freudenthal in der Festschrift für von Liszt (1911), S. 226 fg.
2) Daß v. Stengel im Verwaltungsarchiv Bd. 3, S. 199 diese Ausführungen
„für gänzlich unbehelflich und haltlos“ erklärt, hat mich im Glauben an die Richtig-
keit derselben nicht wankend gemacht. Seine eigenen Erörterungen über den Begriff
der subjektiven öffentlichen Rechte enthalten keinen neuen Gedanken und sind so
trivial und oberflächlich, daß ich an dieser Stelle auf eine Kritik derselben glaube
verzichten zu können.
3) Dem steht nicht entgegen — wie Radnitzky, Parteiwillkür im öffentl.